Nach 60 Ehejahren getrennt: Leben in der Sperrzone Altersheim

Jutta Knobl wurde von ihrem Mann Herbert getrennt
Wie sieht der Alltag in Pflegeheimen zwischen Masken, Isolation und Sehnsucht aus? Der KURIER hat sich auf Spurensuche begeben.

Noch ist alles still im Haus St. Leopold in Klosterneuburg. Keine Besucher, kein Telefonläuten. Nur Georg Ponzer, der um 6.45 Uhr seinen neuen Arbeitsplatz bezieht. Viele würden diesen wohl als unattraktiv bezeichnen:  Ein Tisch zwischen zwei Schiebetüren. Und doch ist er nun einer der wichtigsten im Haus.

Ponzer ist eigentlich der Haustechniker des Caritas Heimes. Seit dem Ausbruch der Corona-Krise ist er aber auch der „Türsteher“ von St. Leopold, wenn man so will. An ihm kommt seit Verhängung des Besuchsverbots niemand vorbei, der nicht im Heim arbeitet. Und schon gar nicht, ohne sich einem Gesundheitscheck zu unterziehen. So soll verhindert werden, dass das Virus eingeschleppt wird.

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Haustechniker Ponzer beim Fiebercheck

Die Regel gilt  auch für Hausleiter Mustafa Salkovic. Um kurz nach 7 Uhr kommt er in die Arbeit. Nach dem obligatorischen „Guten Morgen“ und dem desinfizieren der Hände misst Ponzer seine Temperatur. Hat er Husten? Schmerzen? Alles gut. Salkovic passiert den von ihm selbst eingerichteten Sicherheitscheck. Der 45-Jährige schnappt sich OP-Maske, Schürze und Handschuhe. Zumindest erstere muss nun jeder tragen, der Kontakt mit Bewohnern hat.

Noch schnell ein Kaffee und E-Mails bearbeiten, dann eilt der Chef um 8.30 Uhr zur ersten Sitzung des Tages. Es ist der hausinterne Krisenstab. Als es in Österreich am Vormittag des 11. März 206 bestätigte Corona-Fälle gab und die Schulschließungen verkündet wurden, hat ihn Salkovic ins Leben gerufen.

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Hausleiter Salkovic schickte ein Selfie aus dem Heim

Seither trifft er sich zwei Mal täglich mit Kollegen, um neue Maßnahmen oder Entwicklungen zu besprechen. Aktuell steht etwa der neue Newsletter an der Tagesordnung. „Den geben wir wöchentlich an Bewohner und Angehörige heraus“, berichtet Salkovic. Alle Infos, wie etwa wer wofür zuständig ist, sind darin zu finden. Schon bald wird es auch um die schrittweise Aufhebung der Schutzmaßnahmen gehen.

Für Salkovics Mitarbeiterin Astrid Pfeffer, die die Wohngruppe im 2. Stock leitet, ist der Arbeitstag zum Zeitpunkt des ersten Krisenstabs bereits ein langer. Um 6 Uhr, noch vor Beginn ihrer Tagschicht, kommt sie derzeit ins Haus, um sich mit Kollegen des Nachtdienstes zu besprechen und die Dienstübergabe abzuwickeln.

Ihre Mitarbeiter haben  eine klar Direktive: Kein Job ohne Maske. „Der erste Gang ist also zu mir ins Dienstzimmer“, erzählt sie. Dort händigt sie den Mund-Nasenschutz aus.

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Astrid Pfeffer (re.) mit Bewohnerin Maria Weinmayer

Überhaupt Masken. Sie gelten derzeit als das wichtigste Arbeitsmaterial, dafür hat Salkovic gesorgt. Zwei bis drei Stück erhält jeder Mitarbeiter pro Tag. „Eine Maske und ein Hub Desinfektionsmittel können Leben retten“, ist der Hausleiter überzeugt.

Heiß und bisschen bedrohlich

Für die Menschen im Haus St. Leopold waren sie jedoch gewöhnungsbedürftig. Für die Mitarbeiter, weil es darunter sehr heiß wird. Für demenzkranke Bewohner wiederum, weil die Pflegerinnen damit oft bedrohlich wirken. Zudem sind die Mitarbeiter mit dem Mundschutz für die alten Menschen schlecht zu verstehen. „Wir schreien derzeit sehr viel. Das ist anstrengend“, sagt Pfeffer.

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Besprechungen stehen an der Tagesordnung

„Am Anfang  wurde ich bei der Sitzung gefragt, was der Plan ist“, erinnert sich der 45-Jährige Hausleiter.. „Ich habe gesagt, es gibt keinen. Wir müssen tagtäglich Entscheidungen treffen und vielleicht am nächsten Tag davon Abstand nehmen.“ 

Viele dieser Entscheidungen haben sich aber als richtig entpuppt, etwa die Einrichtung einer Quarantänestation. Sieben Zimmer mit Einzelbetten hat Pfeffer dafür freigemacht. Neuaufnahmen oder Bewohner, die zuvor im Spital waren, müssen dort sicherheitshalber für zwei Wochen isoliert werden. Das gilt auch für jene Bewohnerin, der lediglich der Gips abgenommen wurde.

Ampeln für die Quarantäne

Auch solche Themen werden im Kristenstab besprochen. Wie wird die  sonst gesunde Frau, die Isolation überstehen? Denn der Zutritt ist auf wenige Pflegekräfte beschränkt. Damit niemand aus Versehen in ein Quarantänezimmer platzt, hat Pfeffer ein Ampelsystem eingerichtet. Ein roter Kreis an der Tür bedeutet, dass sich jemand mit Covid-19 infiziert hat.

Die Farbe habe man aber noch nicht gebraucht, sagt Salkovic. Noch ist niemand krank geworden. „Aber es hat einen Plan B gebraucht“, erzählt er. Also hat der 45-Jährige 12 Liegen von den Pfadfindern organisiert und den Sozialraum in einen Schlafsaal umgewandelt, „falls das Haus unter Quarantäne gestellt wird.“ Neben Zahnbürsten, Duschgel und Nahrungsmitteln lagern nun auch Gesellschaftsspiele und DVDs im Haus St. Leopold. Sogar einen Tischtennistisch hat Salkovic angeschafft.

Und Sozialbegleiterin Greiner sowie andere Kollegen packten ihre Sachen ein und meldeten sich freiwillig, im Fall des Falles die Stellung zu halten.

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Schlafsaal statt Sozialraum

Im Haus wurde in der Zwischenzeit das Frühstück beendet. Während sich Hausleiter Salkovic mit seinen Chefs und Kollegen via Online-Konferenz besprich, nimmt Seelsorger Klaus Meglitsch seine Arbeit auf. Und die besteht derzeit aus Einzelbesuchen auf den Zimmern.

Denn seit sich die Bewohner wegen der Corona-Schutzmaßnahmen nur noch in ihren Stockwerken aufhalten dürfen, kann kein Gottesdienst mehr im großen Rahmen stattfinden. „Die Besuche sollten natürlich nicht länger als 15 Minuten dauern und ich trage Maske“, erzählt Meglitsch. Das mache die Seelsorge durchaus schwerer.

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Seelsorger Meglitsch

Vor allem die fehlenden familiären Besuche würden sich auswirken. „Mir hat eine Dame erzählt, dass sie große Angst hat zu sterben und ihre Familie nicht mehr wiederzusehen“, erzählt er. Das sei die große Sorge. Nicht die Angst, am Virus zu erkranken. Das Verlangen nach Zuspruch ist so enorm, dass Meglitsch einen Newsletter ins Leben gerufen hat und eine Seelsorger-Nummer eingerichtet hat.

Ebenfalls am Vormittag sind Pfeffer und ihre Kollegen mit der Pflegearbeit beschäftigt. Körperhygiene, Fieber- und Blutdruckmessen. Ein bisschen Normalität in einer Ausnahmesituation.

Denn Corona hat nicht nur das Leben im Haus St. Leopold, sondern auch den Arbeitsalltag von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Das Mantra jeden Tag: Virusfrei bleiben. Berichte aus anderen Ländern, von Dutzenden Erkrankten in einem Heim, erschrecken das Team. Und sie alle quält ein Gedanke: Was, wenn ich einen Bewohner anstecke? Sozialbegleiterin Greiner etwa hat sogar ihr Privatleben auf diese Sorge ausgerichtet. Sozialkontakte vermeidet sie weitgehend.

Zu den alltäglichen Aufgaben sind nun viele weitere hinzu gekommen. Bewohner haben enormen Gesprächsbedarf. Gerade Demenzkranke verstehen die Situation nicht, glauben, sie seien schuld daran, dass ihre Lieben nicht mehr kommen. Manche quält das Gefühl verlassen worden zu sein, die Mitarbeiter müssen sie beruhigen. Ganz abgesehen davon, dass den Menschen der körperliche Kontakt fehlt, wie eine Umarmung oder Händehalten, erzählt Greiner

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Sozialbetreuerin Maria Greiner: Körperliche Nähe fehlt

Mit der Krise sind zudem lieb gewonnene Aktivitäten  unmöglich geworden. Weil keine Freiwilligen mehr ins Heim dürfen, finden Bingo-Runden oder Treffen von unterschiedlichen Hausgruppen zum Turnen oder Singen nicht mehr statt. Es sind nun die Mitarbeiter, die versuchen das zu kompensieren und den Alltag gestalten.

Wie Haustechniker Ponzer. Die  Runde „Modelleisenbahn für reifere Buben“, die gemeinsam an der Bahn tüfteln, ist  auf Eis gelegt. Also nimmt er sich für einzelne Personen Zeit, damit sie die Bahn alleine eine Runde drehen lassen können.

Singen, Frisör und Fußpflege fehlen

Sozialbegleiterin Greiner versucht mit einem abgespeckten Aktivitätsprogramm den Alltag  aufrecht zu erhalten. Vieles wird nun auch zu zweit im Zimmer erledigt. Damit kann sie nicht alle glücklich machen. „Die Veranstaltungen waren schon eine Freude, das Bingo, das Vorlesen“, bedauert Maria Weinmayer. Am meisten würde ihr aber der Singkreis fehlen. Und natürlich der Frisör sowie die Fußpflege.

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Nur noch einzelne "reifere Buben" können an der Modelleisenbahn basteln

Mittlerweile ist es 10.30 Uhr und Greiner startet ihr abgespecktes Programm. Im Themenraum der jeweiligen Station wird in kleiner Runde Ball gespielt oder gerätselt. Zum Schluss gibt es für die Bewohner etwas Süßes und es wird geplaudert. „Die Schwerpunkte der Arbeit sind jetzt anders“, erklärt sie. Viele Bewohner hätten Angst, würden sich das aber nicht zugeben trauen. „Da muss man sehr achtsam sein.“ 

Kurz vor 11.30 Uhr schwingt dann Gertrude Oswald in der Küche ihrer Wohngruppe den Kartoffelschäler. Beim Erdäpfelschälen gelte  sie als Expertin, erzählt die 86-Jährige. Kurz zuvor war sie noch Ball spielen und bei der Rätselrunde. Abgespeckt oder nicht, Oswald geben die Treffen Sicherheit. Es gehe ihr gut, meint sie. Bis auf, naja, dass sie ihre Tochter vermisse. „Es ist nicht einfach, sie ist sonst immer bei mir. Ich hab Angst, dass ich das so nicht mehr erlebe, weil mir geht es nicht so gut“, räumt sie ein.

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Gertrude Oswald fühlt sich beim Kochen wohl

Mit ihren Sorgen hat sie  Unterstützung bei „Pater Klaus“ Meglitsch gefunden. Angst vor Corona hat sie übrigens nicht. „Geh, ich hab’ nie Angst gehabt“, lässt sie wissen.

Während Oswald und die anderen Bewohner Mittagessen geht für die Mitarbeiter die Arbeit ohne Pause weiter. Pfeffer muss etwa die Zoom-Konferenzen und die Telefonate mit den Angehörigen vorbereiten. Zwischen 14 und 16 Uhr können diese  auf den Stationen anrufen und sich ihre Lieben ans Telefon oder vor das Tablet holen lassen.

Für viele die einzige Möglichkeit eines Gesprächs in diesen Tagen. „Da sind die Bewohner sehr emotional. Ich habe aber auch schon weinende Angehörige gesehen“, erzählt  Pfeffer.

Für sie ist die Möglichkeit, zu bestimmten Zeiten ihre Eltern oder Partner zu erreichen, ebenfalls eine wichtige Stütze. Auch weil man sich gleich bei den Pflegerinnen nach dem Befinden der Bewohner erkundigen kann, erzählt Christine Lazansky, deren 80-jährige Mutter seit Februar im Haus St. Leopold wohnt. Sie wisse dann, dass ihre Mama gut versorgt werde. Und das sei wichtig.

„Wenn ich im Fernsehen höre, dass in anderen Heimen das Virus grassiert, habe ich natürlich Angst“, sagt die 50-Jährige. Als Lazansky im März vonseiten der Heimleitung über das Besuchsverbot informiert wurde, stand für sie außer Frage, dass die Entscheidung richtig ist.

Grillerei zur Hebung der Moral

Während manche Senioren den Telefonaten entgegenfiebern, steht um 13 Uhr noch das zweite Meeting des Krisenstabs an. Diskutiert wird die Lage in den einzelnen Wohnbereichen. Wie viel Schutzmaterial wurde verbraucht? Wie viele Masken gibt es noch? Was brauchen die Bewohner? Auch gemeinsame Aktivitäten zur Hebung der Moral werden besprochen. Zuletzt wurde etwa eine Grillerei organisiert. Also eigentlich hat Haustechniker Ponzer gegrillt, die Würstel wurden dann auf den Stationen serviert. Das Leben, das muss auch während der Krise weitergehen.

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Für unbeschwerte Stunden sorgte zuletzt ein Konzert im Garten des Heimes. Gelauscht wurde in sicherer Distanz

Um 14 Uhr ist es dann soweit. Telefonzeit. Die technisch versierteren wagen sich an die Videotelefonie. Manche Leute kommen aber auch vorbei und winken durchs Fenster. Dabei kam es auch zu herzzerreißenden Szenen. Denn es werden nicht nur Eltern und Kinder, sondern auch Ehepaare getrennt.

Wie das Ehepaar Knobl. Seit 60 Jahren sind die beiden verheiratet, er lebt im Haus St. Leopold. Jutta Knobl besuchte ihren Mann Herbert jeden Tag. Bis sie nicht mehr durfte. „Das Bild wie er drinnen sitzt und sie draußen weint, war der emotionalste Moment meiner Laufbahn“, schildert Salkovic.

Am liebsten hätte er sie zusammengelassen, was natürlich nicht möglich ist. „Das ist eine Entscheidung zwischen Herz und Hirn.

Und als sich die beiden ein Bussi durch die Glasscheibe gaben, war es auch um Ponzer geschehen. Er hat deshalb eine „Besucher-Schleuse“ gebaut. Nun kann sich Ehepaar Knobl mit Maske zumindest durch Plexiglas unterhalten.

Seele des Hauses

Der frühe Nachmittag ist für Besucher und Lieferanten auch die letzte Gelegenheit des Tages, Mitbringsel bei dem 58-jährigen Portier abzugeben oder Waren anzuliefern, die dieser übernimmt. Bis 15 Uhr hält der „Türsteher“ seinen Posten. Zumindest an zwei Tagen in der Woche.

An den anderen übernimmt ein Kollege und Ponzer seinen dritten Job im Haus. Den des Handwerkers. Dann ist er unterwegs und repariert etwa kaputt gegangene Geschirrspüler. Denn auch Servicetechniker haben derzeit keinen Zutritt. Da heißt es: selber anpacken. „Ich strecke meine Fühler nach dorthin aus, wo wir gebraucht werden“, sagt Ponzer. Dazu gehört jetzt auch, den Lagerbestand von Masken und Co. zu überprüfen und nachzubestellen.

Überhaupt ist Ponzer die gute Seele des Hauses. Denn der erfinderische Haustechniker hat nicht nur in der Krise die Besucherschleuse gebaut, sondern die Bewohner schon zuvor mit einem Stadel und einer Pergula überrascht. Das nächste Projekt: Ein Pizzaofen im Garten.

Hausleiter Salkovic hat indes nach 14 Uhr endlich Zeit, etwas zu essen. Ein Käse-Olivenstangerl, das er sich vom Hofer mitgenommen hat. Nebenbei kümmert sich der 45-Jährige darum, dass das Heim läuft, er beantwortet viele Mails. Auch das ist in der Krise zu tun.

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Der Alltag im Pflegeheim geht weiter. Zu Ostern gab es auch Geschenke

Um 16 Uhr, nachdem er auch ein bisschen mit den Bewohnern geplaudert hat, endet Salkovics Arbeitstag. Theoretisch. Abschalten kann er aber nicht. „Ich gehe die Tage im Kopf durch, was ich noch organisieren muss“, sagt er. Einschlafen ohne Hilfe, das geht im Moment nicht.

„Es gibt Tage, die gehen sehr an die Substanz“, sagt auch Pfeffer. Umso wichtiger ist es derzeit, privat einen Ausgleich zu finden. Und vielleicht, so hoffen die Mitarbeiter, hat die Krise auch etwas Gutes. Nämlich mehr Wertschätzung für einen Beruf, der oft unbeachtet hinter verschlossenen Türen stattfindet.

 

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