Risikopatienten: "Wir befinden uns im Blindflug"
In Zeiten von Digitalisierung und elektronischen Gesundheitsakten mag es ein wenig befremdlich wirken, dass es keine Datenbanken mit den chronisch Erkrankten gibt, die jetzt als Corona-Risikopatienten gelten. Die Gründe liegen, wie so oft, in den starren Strukturen des heimischen Gesundheitssystems. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Thema.
Wie aussagekräftig sind die Erkenntnisse, die aus der Medikamentenabgabe gewonnen werden können?
Von der Verschreibung von Medikamenten auf die Erkrankung des Patienten zu schließen, sei nur bedingt möglich, warnen Experten. Einfach sei das noch bei einer Erkrankung wie Diabetes, der ganz spezifische Medikamente zugeordnet sind (z. B. Insulin), bei anderen Erkrankungen, zum Beispiel COPD, seien eindeutige Rückschlüsse schon weit schwieriger, warnt man bei der Wiener Patientenanwaltschaft.
Hinzu kämen bestimmte rezeptfreie Medikamente wie Appetitzügler, die von der Risikogruppe der schwer Übergewichtigen häufig eingenommen werden. Bei den Kassen scheint die Verabreichung dieser Mittel aber nicht auf, ihre Konsumenten würden dann auch nicht als Risikoperson identifiziert.
Warum gibt es keine Daten darüber, wer Risikopatient ist?
„In der jetzigen Situation rächt sich ein Versäumnis im Gesundheitssystem, dessen Behebung wir seit Jahren fordern“, sagt Wiens Patientenanwältin Sigrid Pilz: Im Gegensatz zu den Spitälern, wo jedem Patienten zu Abrechnungszwecken ein spezieller Diagnose-Code zugeordnet wird, gibt es im niedergelassenen Bereich dieses System nicht, das eine rasche Ausforschung von Menschen mit bestimmten Erkrankungen ermöglichen würde.
„Damit befinden wir uns im völligen Blindflug“, kritisiert auch der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer. Verantwortlich dafür sei laut beiden Experten nicht zuletzt die Ärztekammer, „die sich gegen mehr Transparenz sträubt“, wie es Pilz formuliert. „Die Codierung auch im niedergelassenen Bereich wurde schon 1998 beschlossen, trotzdem gibt es sie bis heute nicht“, sagt Pichlbauer. Es gebe auch kein seit vielen Jahren gefordertes Register zu den chronischen Erkrankungen. „Dieses Thema wurde auch von den Gesundheitsministern nicht ernst genommen, jetzt fällt uns die Sache auf den Kopf“, kritisiert der Gesundheitsökonom.
Können über die elektronische Gesundheitsakte Elga Risikopatienten identifiziert werden?
„Für Ermittlung von Risikopatienten ist Elga ein völlig untaugliches Instrument“, kritisiert Gesundheitsökonom Pichlbauer. Aktuell werden in die elektronische Gesundheitsakte nur vier Arten von Daten eingespeist: Röntgen- und Laborbefunde, Entlassungsbriefe der Spitäler und verschriebene Medikamente. Daraus ergibt sich nur ein sehr unvollständiges Bild über die Beschwerden eines einzelnen Patienten. Vergleichsweise gering macht sich da noch das Problem der aus Elga ausgestiegenen Patienten aus. Ihre Zahl liegt laut den letztverfügbaren Daten bei rund 300.000.
Wie berechtigt sind Datenschutz-Bedenken?
Patientenanwältin Pilz hat gewisse Bedenken: „Durch den Antrag auf Freistellung bzw. Homeoffice erfährt der Arbeitgeber, dass sein Mitarbeiter von einer chronischen Erkrankung betroffen ist. Im schlimmsten Fall könnte sich der Arbeitgeber sogar unter Druck gesetzt fühlen, zu verraten, um welche Erkrankung es sich handelt, befürchtet sie. Pichlbauer ortet eine schwierige Abwägungsfrage, der sich die Politik stellen muss: „Was ist wichtiger? Der Schutz der Mitarbeiter vor bösen Chefs oder ein langfristiger Lockdown der Wirtschaft, der 500.000 Arbeitslose verursacht? Das ist keine lustige Entscheidung.“
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