Sechs Monate war Romana Schwab alt, als sie das erste Mal ins Kinderheim kam. Für sie und später ihre jüngeren vier Geschwister folgte ein Leben zwischen Heim und Eltern, voller Gewalt und Missbrauch. Schwab ist eines jener ehemaligen Heimkinder, die ab 2010 nach langem Schweigen ihre Erfahrungen öffentlich gemacht haben.
Im Gegensatz zu vielen anderen hat die 61-Jährige ihr Leben in den Griff gekriegt. Mit ihrer Familie lebt sie in Niederösterreich. „Heute geht es mir gut“, sagt sie. Als Obfrau des Vereins „Ehemalige Heim- und Pflegekinder Österreich“ engagierte sie sich für die Durchsetzung der Heimopferrente. Von der Stadt Wien ist sie enttäuscht.
KURIER:Die schwierigste Frage zu Beginn: Können Sie uns von Ihren Gewalterfahrungen erzählen?
Romana Schwab: Natürlich, das war damals gang und gäbe. Sie haben versucht, die Kinder zu brechen. Die wollten sich Sklaven erziehen, die nicht aufmucken. Ein Heimleiter zum Beispiel, hat wahnsinnig gerne Kopfnüsse ausgeteilt. Er hat die letzten zwei Schulstufen unterrichtet, und wenn du an der Tafel gestanden bist und etwas nicht gewusst hast, hast du schon eine g’habt. Da bist’ gleich mit dem Kopf gegen die Tafel geknallt. Und man wurde im Kartoffelkeller eingesperrt, wenn man irgendwas angestellt hat.
In welchen Heimen waren Sie untergebracht?
Im Zentralkinderheim, in Biedermannsdorf, im Kinderheim Schloss Altenberg. Das Nussdorfer Lehrlingsheim war dann die letzte Station. Irgendwann hat mich die Mama entdeckt, weil sie eine Arbeitskraft gebraucht hat. Da hat sie mich rausgenommen.
Ihre Kinder halfen Romana Schwab, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Heute engagiert sie sich für andere Opfer.
Mit dem Ende ihrer Heimzeit verschwand die Gewalt nicht aus dem Leben Schwabs. Für ihre Mutter, die sie als brutal beschreibt, musste sie arbeiten, sie rannte davon, wurde obdachlos. Mit 17 traf sie ihren nunmehrigen Ex-Mann, einen gewalttätigen Alkoholiker. Sie verliebte sich trotzdem, „weil ich nichts anderes gekannt habe“. Drei Kinder kamen, 1988 folgte die Scheidung. „Seitdem geht es mit mir bergauf.“ Was lange blieb, was das Schweigen über das Erlebte.
Kann der nun erschienene Bericht des Weissen Rings tatsächlich der Abschluss im Missbrauchsskandal sein?
Was ich in dem Bericht gelesen habe, sind schöne Worte. Vor allem von Bürgermeister Ludwig. Aber das kann nicht abgeschlossen sein. Unmöglich. Stattdessen wäre ich dafür, dass das neu aufgerollt wird. Dass auch jene zu ihrem Recht kommen, die bisher um keine Entschädigung oder Therapie ansuchen konnten. Im Grunde genommen geht es ihnen genauso wie im Heim damals: Vergessen und ignoriert.
Hätten sich die Betroffenen nicht schon früher melden können?
Das ist ein Problem jetzt im Alter. Wenn die Leute in Pension gehen, fangen sie an nachzudenken, was alles passiert ist. Sie können oft nächtelang nicht schlafen, haben Depressionen und fragen sich, wofür die Welt für sie noch da ist. Dazu kommt, dass lange nicht darüber gesprochen werden durfte. Erst jetzt. Und damit kommt die Retraumatisierung richtig raus.
Auch Schwab selbst konnte lange nicht über Gewalt und Missbrauch reden. Als ihre Schwester sie dazu überredete, sich bei der Untersuchungskommission zu melden, erzählte sie dem Therapeuten zuerst, dass nichts passiert sei. Erst in den Foren der Heimkinder fand sie Worte.
Was könnte man für die Opfer tun?
Es wäre extrem wichtig, dass die Therapiestunden weiterbezahlt werden. Es gibt ja Bundesländer, die tun das. Sogar die Kirche. Nur die Gemeinde Wien hat das im März 2019 eingestellt. Weil sie gemeint haben, genug ist genug. Aber es ist nicht genug. Die Heimkinder hat auch niemand gefragt, ob es genug ist. Ich hab schon manche Politiker angeschrieben. Wir werden uns natürlich weiter einsetzen. Beim Weissen Ring ist man auch der Meinung.
Muss es nicht irgendwann einen Abschluss geben?
Die Worte, dass es „irgendwann genug sein muss“, die stoßen mir auf. Es gab Kinder, die waren 18, 19 Jahre in dem Heim. Und keiner hat gesagt, es ist genug. Du warst Freiwild. Es hat sich keiner für dich interessiert. Das Schreckliche dabei ist, dass man uns aus Familien geholt hat, die uns vernachlässigt, misshandelt und missbraucht haben, um uns andere Möglichkeiten zu bieten. Und dann passiert uns das in diesen geschlossenen Institutionen – oft sogar viel schlimmer. Denn heraußen hast du zumindest ein bisschen Freiheit gehabt. Aber die haben sie uns auch noch genommen. Das Letzte, das wir gehabt haben.
2384 Leben in Kinderheimen zerstört
Immerhin, es wurden knapp 53 Millionen Euro an Entschädigung ausbezahlt.
Das klingt viel, aber man muss einmal ausrechnen, auf wie viele Leute (2.384, Anm.) das aufgeteilt und wie viel für die Therapiestunden ausgegeben wurde. Man kann das mit Geld sowieso nicht gut machen. Auf der anderen Seite sind die ausbezahlten Beträge für viele eine Hilfe gewesen. Die meisten haben ja keinen richtigen Beruf gelernt, die ruacheln sozusagen dahin. Für die war das natürlich sehr viel Geld.
Und die andere Seite?
Für das, was die Heimkinder erlitten haben, ist es sehr wenig Geld. Ein Gefangener, der zu Unrecht eingesperrt wurde, bekommt bei weitem mehr.
Dass – wie in dem Bericht erwähnt wurde – viele Psychotherapieeinheiten nicht in Anspruch genommen wurden, wundert Schwab nicht. Auch sie selbst verzichtete darauf. Geholfen haben ihr das Engagement im Verein und die Berichte anderer Heimkinder. „Weil ich denke mir dann immer, dir ist es nicht gut gegangen, aber andere sind daran zerbrochen“, sagt die 61-Jährige. Stärker sei sie dadurch geworden.
Glauben Sie, dass es viele Betroffene gibt, die sich noch nicht gemeldet haben?
Da ist noch lange kein Ende. Wenn man sich die Zeitspanne von den 1945-Jahren bis zu den Heimschließungen in den 1980er-Jahren anschaut. In so einem Heim waren ja gleich ein paar hundert Kinder. Und dann gibt es noch die Pflegekinder, die oft wie Sklaven behandelt und ebenfalls sexuell missbraucht wurden. Dazu kommt, dass zu wenig publik gemacht wurde, dass man um Entschädigungen und Therapiestunden ansuchen kann. Viele wussten das gar nicht.
Was hat Ihnen die Kraft gegeben, Ihr Leben in den Griff zu kriegen?
Meine Kinder. Es gibt nichts Wichtigeres für mich. Wenn ich meine Kinder nicht gehabt hätte, hätte ich vielleicht irgendwann zu trinken angefangen. Man sagt immer, Männer sind das starke Geschlecht. Aber es kämpfen viel mehr Frauen als Männer. Leider sind die dann diejenigen, die finanziell auf der Strecke bleiben. Frauen können es sich nicht leisten, depressiv zu sein, solange sie sich um Kinder kümmern müssen.
Was raten Sie Betroffenen, die noch keine Ansprüche geltend gemacht haben?
Das Einzige, was sie in finanzieller Hinsicht machen können, ist die Heimopferrente einreichen, wenn sie in Pension sind. Da können sie ihre Geschichte erzählen. Oder sie können generell zu den Treffen mit anderen Heimkindern kommen – wenn sie reden wollen. Die bräuchten aber alle eine Therapie. Es nützt nichts, das muss wieder aufgenommen werden. Du kannst als Laie so einem Menschen nicht helfen.
Der Bericht enthält laut Schwab viele "schöne Wort". Es brauche aber weiterhin Taten
Viele Heimkinder kommen in ein Alter, in dem sie pflegebedürftig werden. Wie geht es ihnen mit der Perspektive, vielleicht in ein Altersheim zu müssen?
Es herrscht große Angst, dass ihnen dort genau dasselbe passiert. Wenn du niemanden hast, bist du vergessen. Dann bist du nur noch zum Sterben dort drinnen. Die können mit dir machen, was sie wollen. Genauso wie mit den Kindern damals. Da muss man natürlich fest hinschauen.
Was braucht es, um abschließen zu können?
Die Sache kann so lange nicht abgeschlossen sein, solange es die Verjährungsfrist für noch lebende Täter gibt.
Romana Schwab ist seit 2013 Vorstand des Vereins „Ehemalige Heim- und Pflegekinder Österreich.“ Laut Eigendefinition soll das Forum allen Missbrauchsopfern helfen, die Vergangenheit besser aufarbeiten zu können. Zudem setzen sich die Verantwortlichen dafür ein, dass es künftig derartige Übergriffe gegenüber Schutzbefohlenen nicht mehr gibt. Schwab ist auch wesentlich an der Umsetzung der Heimopferrente beteiligt.
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