Ein (zu) schnelles Ergebnis?
In Portbou macht sich die von einer Anrainerin alarmierte Polizei ein Bild von der Lage. Und kommt schnell zu einem Schluss: Suizid. Dabei beschreiben Augenzeugen die Szene als „ungewöhnlich“, ja makaber: Die junge Frau hängt in 2,65 Meter Höhe auf einem Ast, ihr Körper ist dem Baumstamm zugewandt. Der Knoten des kurzen Seils befindet sich genau unter ihrem Kinn. Außer ihrer Kleidung hat sie nichts bei sich, keinen Ausweis, keine Tasche. Sie ist barfuß, ihre Schuhe stehen ein Stück weit entfernt. Aufstiegshilfen gibt es auf dem steilen Hang keine. Und der Knoten wird von der Polizei als Seemannsknoten beschrieben.
Der zuständige Gerichtsmediziner kommt nicht zum Fundort. Ihm wird gesagt, dass ein erhängtes Mädchen gefunden wurde, er führt eine eher oberflächliche Obduktion durch, entnimmt auch kein Blut für toxikologische Untersuchungen. Es gibt keine Anzeichen von Gewalteinwirkung, keine Kratzer am Körper, die Fußsohlen sind völlig sauber. Ringsum stehen Kakteen mit langen Stacheln, und auch das eigenständige Klettern auf den Baum hätte Spuren am Körper hinterlassen müssen. Aber da ist nichts. Der Tod ist durch Erhängen eingetreten, und auch der Gerichtsmediziner zweifelt nicht am Selbstmord des Mädchens.
Im heimatlichen Lana bei Meran geht der Vater der beiden Schwestern zum Bahnhof. Er spürt, dass seiner Tochter etwas Schlimmes zugestoßen sein muss. Aber vielleicht kommt Evi ja doch mit dem Zug nach Hause? Er wartet den ganzen Tag, die ganze Nacht. Als es wieder hell wird, geht er alleine nach Hause zurück.
Nichts gesehen und nichts gehört
Nur 40 Meter von der hohen Pinie und dem toten Mädchen entfernt, also in Sicht- und Hörweite, sieht die Polizei am Morgen des 4. September ein Zelt. Darin schlafend, neben einem VW-Bus: eine Gruppe junger Österreicher, 5 Männer, eine Frau. Alle aus Wien und zwischen 18 und 24 Jahre alt. Befragt werden sie kaum, die Sprachbarriere ist groß. Sie geben zu Protokoll, dass sie gegen 3 Uhr morgens angekommen und dann bald schlafen gegangen seien, nichts gehört und nichts gesehen hätten. Man lässt sie ziehen.
Dabei versucht noch am selben Morgen eine Anrainerin eine Aussage zu machen: Sie sei in der Nacht durch lautes Schreien, Streit und das Weinen eines Mädchens aufgewacht, habe sich aber nicht getraut, nachzusehen. Doch die Polizei nimmt ihre Aussage nicht auf.
In Florenz kann Schwester Christina 48 Stunden nach Evis Verschwinden eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben. Sie ist fast wortgleich mit der Anzeige einer unbekannten Toten, die von der Guardia Civil im 1.000 Kilometer entfernten Portbou verfasst wird: Eine junge Frau, die Latzhose und ein türkises Shirt trägt, am Handgelenk eine Casio-Armbanduhr. Beide Meldungen gehen an Interpol, doch zu einem Treffer kommt es nicht. Die internationale Zusammenarbeit versagt in diesem Fall komplett – und folgenschwer. 32 Jahre lang muss die Familie Rauter mit der Ungewissheit leben, was ihrer Evi geschehen ist. 32 Jahre lang bleibt die Unbekannte in Portbou namenlos.
Eine dramatische Wendung
Das Mädchen aus Portbou lässt die katalanischen Journalisten nicht los, immer wieder rollen sie den Fall auf. Im Jahr 2022 schließlich widmet sich die katalanische True-Crime-Sendung Crims dem Fall und holt dazu – auch wegen des Aspekts der jungen Camper – österreichische Unterstützung ins Boot: Ben Morak und seine Sendung ATV Ungelöst. Hier wird der Fall der unbekannten Toten im April 2022 ausgestrahlt. Und es geschieht, womit niemand mehr gerechnet hatte: Eine Südtirolerin, die gerade in Österreich Urlaub macht, erkennt das Mädchen von Fahndungsplakaten und Medienberichten aus den frühen 90er Jahren wieder. Es ist Evi Rauter.
Auch der Gerichtsmediziner sorgt für eine Wende, als er bei „Crims“-Dreharbeiten zum ersten Mal die Fotos der Fundsituation sieht. Auch das ist, wie so vieles in diesem Fall, auf pure Nachlässigkeit der Ermittlungsbehörden zurückzuführen. Er ist schockiert. Denn für ihn ist klar: Ein Suizid ist völlig ausgeschlossen. Um sich so zu erhängen, müsse man schweben können, sagt er.
Nichts als Theorien
Für die Beamten der Guardia Civil bleibt der Fall ein Suizid. Etwas, das die Familie ausschließt. Die Familienbande waren eng, Evi hätte über ihre Probleme gesprochen. Sie wirkte zufrieden und verbrachte einen völlig unauffälligen letzten Morgen mit ihrer Schwester. Es gab auch keinen Bezug zu Portbou oder Spanien. Und nicht zuletzt stellt die Auffindesituation diese These mehr als in Frage. Zeitlich wäre es sich theoretisch ausgegangen. Damals gab es einen Zug aus Rom, der täglich um 13.15 Uhr in Florenz hielt und dann am nächsten Morgen um 5.45 Uhr in Portbou angekommen wäre. Gegen 7.30 Uhr wurde Evi bereits erhängt aufgefunden – sie hätte sich also im Dunkeln sehr zielstrebig ihren Weg durch den ihr völlig unbekannten Ort zu der von Kakteen umgebenen Pinie bahnen müssen.
Doch auch bei der Mordtheorie bleiben viele Fragen offen. Wurde Evi Rauter entführt? Ist sie freiwillig in ein fremdes Auto gestiegen? Ihre Schwester hält das jedenfalls für unwahrscheinlich. Wie kamen der oder die Täter mit ihr über zwei Landesgrenzen? Und warum präsentierten sie das tote junge Mädchen auf diese Art, völlig exponiert und von weithin sichtbar?
Und so bleibt nur eines mit Sicherheit zu sagen: Evi Rauter verschwand am 3. September 1990 zwischen 9 und 13 Uhr in Florenz und wurde am 4. September gegen 7.30 Uhr in Portbou erhängt aufgefunden. Was in den 23 Stunden dazwischen geschah, bleibt im Dunkeln. Ein Fragezeichen, mit dem die Familie Rauter weiterleben muss - bis vielleicht doch noch Bewegung in den Fall kommt.
Endloser Kampf
Doch auch heute noch kämpfen sie um ihre Evi. Denn die liegt - aufgrund einer weiteren fatalen Fehlentscheidung der spanischen Behörden - seit 2001 in einem Massengrab auf dem Friedhof im katalanischen Figueres. Dort wurde ihr Leichnam einst einbalsamiert - eben mit dem Gedanken, ihn später noch untersuchen zu können oder ihn irgendwann der Familie zurückzugeben. Bemühungen, die von spanischer Seite bisher kaum unterstützt wurden. Auch Ermittlungen werden in Spanien nicht mehr aufgenommen – erstens gilt der Fall dort nach wie vor als Suizid, und zweitens verjährt Mord in Spanien nach 20 Jahren, so dass Ermittlungen rechtlich gar nicht mehr möglich sind.
In Italien aber verjährt Mord nicht - die Staatsanwaltschaft in Florenz wird aktiv und 17 Monate lang ermitteln die italienischen Beamten intensiv. Um die österreichischen Camper einvernehmen zu können, müsste Italien ein Rechtshilfeersuchen an Österreich stellen - das scheint bis heute nicht geschehen bzw. ergebnislos geblieben zu sein. Und dann wird auch dieser Akt im September 2023 archiviert. Die Staatsanwaltschaft hält zwar ein Verbrechen für wahrscheinlich, hat aber noch nicht genügend Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen gefunden. Deshalb eröffnet sie im Oktober 2023 ein Strafverfahren gegen Unbekannt - so können die Ermittlungen wieder aufgenommen werden, wenn es neue Hinweise gibt.
An der Pinie, an der ihr Leben endete, war lange Zeit eine Tafel angebracht: "Evi Rauter - Für alle namenlosen Menschen". Und fast auf den Tag genau 32 Jahre nach Evis Verschwinden in Florenz findet in Lana in Südtirol die Trauerfeier für sie statt. Auf der Traueranzeige, die ihre Familie geschrieben hat, steht: „Die Erinnerung ist ein Fenster, durch das ich dich sehen kann, wann immer ich will."
Hinweise:
Wenn Sie Informationen zu diesem Fall haben, dann wenden Sie sich bitte an dunklespuren@kurier.at
Weitere Fälle:
Kommentare