Ihre Eltern mussten vor den Nazis flüchten: Spurensuche der Kinder in Wien

Daphne Tamir beim Empfang im Rathaus: Ihre Eltern sind in Wien geboren und mussten nach Israel flüchten.
Wien, 1938: Die zehnjährige Ilse Richtman lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder im 15. Bezirk. Sie haben ein Möbelgeschäft in der Hütteldorfer Straße. Am Tag nach dem „Anschluss“ begrüßt der Lehrer die Schüler mit „Heil Hitler“. Der Hausmeister teilt ihren Eltern mit, dass sie ihre Wohnung verlassen müssen. Als sie das hört, beginnt Ilse vor Angst zu zittern, wie sie später in ihren Memoiren schreibt. Die Familie zieht zu Verwandten an den Franz-Josefs-Kai. Ilse darf nicht mehr zur Schule gehen, auch nicht in den Park: Juden und Hunde sind dort unerwünscht.
Wien, 1939: Ilse Richtman ist elf Jahre alt, als sie sich am Westbahnhof von ihren Eltern verabschieden muss. Sie wird mit einem Kindertransport nach England geschickt. Mit diesen Zügen werden jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich etwa nach Großbritannien, Schweden oder Belgien geschickt, um sie vor den Nazis zu retten. Ilse sollte ihre Eltern nie wieder sehen. Ihre Mutter stirbt an einer Krankheit, ihr Vater in Auschwitz.
Wien, 2024: Jennifer Wein geht den Franz-Josefs-Kai entlang. Sie sucht die Wohnung, in der ihre Mutter Ilse Richtman zuletzt gelebt hatte, bevor sie nach England gebracht wurde und von dort weiter nach Australien ging.
Jennifer Wein selbst ist in Australien geboren und aufgewachsen. Gemeinsam mit ihrem Mann Peter verbringt sie auf Einladung des Jewish Welcome Service nun eine Woche in Wien. Sie findet die Wohnung, läutet an, tatsächlich ist jemand zu Hause: Die Bewohnerin lädt das Ehepaar Wein für den kommenden Abend ein. Sie sei sehr „excited“, also freudig aufgeregt, sagt sie zum KURIER, der die Gäste des Jewish Welcome Service einen Nachmittag lang begleiten durfte.
Seit den 1980er-Jahren gibt es regelmäßig Besuche
Seit den 1980er-Jahren organisiert der Jewish Welcome Service regelmäßig Besuche von vertriebenen Juden und deren Nachkommen. Tausende Menschen kamen auf diesem Weg seither nach Wien. 35 Teilnehmer aus den USA, Australien, Großbritannien und Israel sind heuer dabei: Auf dem Programm stehen unter anderem eine Tour durch den jüdisch geprägten zweiten Bezirk, ein Empfang im Rathaus und der Besuch einer Ausstellung über Kindertransporte.
"Sie hörte, wie die Menschen über den ,Anschluss' gejubelt haben"
Mit dabei ist auch Daphne Tamir aus Israel. Ihre Eltern sind in Wien geboren. „Meine Mutter hat 1938 gehört, wie die Menschen über den ,Anschluss‘ gejubelt haben. Wie sie gesagt haben: ,Jetzt zeigen wir es den Juden.‘ Ihre Brüder haben Gehsteige mit der Zahnbürste schrubben müssen“, erzählt sie.
Die Gründung und die Ziele: Der Jewish Welcome Service wurde 1980 gegründet. Zunächst lud man kleinere Gruppen von Vertriebenen nach Wien ein, seit 1989 finden die Besuche regelmäßig statt. Vertriebene, Zeitzeugen und deren Nachkommen lernen so das jüdische Leben in Wien kennen. Infos: jewish-welcome.at/de/
Film-Tipp: Der Film „One Life“ mit Anthony Hopkins feiert im Rahmen des Jüdischen Filmfestivals am 21. März (19 Uhr) im Metro Kinokulturhaus Premiere.
Er erzählt die Geschichte von Sir Nicholas „Nicky“ Winton, einem Londoner Makler, der 669 Kinder vor den Nazis rettete.
Mit „nichts als einem Rucksack“ flüchtete die Mutter nach Israel, in Jerusalem baute sie sich als talentierte Näherin und Designerin ein neues Leben auf. Dort lernte sie auch ihren Ehemann – Daphnes Vater – kennen, der ebenfalls aus Wien geflüchtet war.
„Meine Mutter war so stark, so tapfer. Sie hat nie schlecht über etwas geredet“, erzählt Daphne Tamir. Und ihr Wien, das habe die Mutter nie vergessen: die Besuche im Prater, die Sonntage im Kaffeehaus. „Sie hat nie geweint. Nur kurz vor ihrem Tod 2017, als wir ihr das Lied ,Wien, Wien, nur du allein‘ vorgespielt haben.“
Daphne Tamirs erster Besuch in Wien
Mit 20 Jahren sei sie selbst das erste Mal in Wien gewesen, erzählt die heute 77-jährige Tamir. „Ich habe an die Tür der Wohnung geklopft, aus der meine Mutter und meine Großmutter damals vertrieben worden sind. Ich habe der alten Frau, die geöffnet hat, gesagt, dass ich die Enkelin bin und dass unsere Familie überlebt hat. Sie ist weiß wie die Wand geworden.“
Daphne Tamir ist in Jerusalem aufgewachsen, spricht aber noch fließend Deutsch. Wien hat sie immer gerne und oft besucht.
"Es ist ein wichtiger Teil meiner Geschichte"
Wie auch Jennifer Wein: Obwohl der Weg von Australien ein weiter ist, war sie schon sechs Mal in Wien. „Es ist ein wichtiger Teil meiner Geschichte“, sagt sie.

Peter und Jennifer Wein aus Australien in der Ausstellung über Kindertransporte, die in der Volkshochschule im 8. Bezirk gezeigt wird.
Ihre Mutter habe sehr viel über ihr Leben hier erzählt: vom Möbelgeschäft, vom Hausmädchen Mitzi, von Besuchen in Schönbrunn, vom Stadtpark und von Grinzing. Auch ihr Mann Peter hat Wurzeln in Österreich und in Osteuropa: „Ich habe noch ein Kochbuch von meiner Großmutter auf Deutsch. Da steht noch drinnen, wie eine Frau den Haushalt am besten managen soll“, sagt er und lacht.
Dass sie jetzt, 85 Jahre später, die Möglichkeit habe, wieder einmal die Stadt zu besuchen, die ihre Mutter einst verlassen musste, sei jedenfalls „eine fantastische Möglichkeit“, freut sich Jennifer Wein.
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