Häusliche Gewalt: Polizei spricht täglich 38 Betretungsverbote aus
Die Angst verfolgte die Frau über Jahrzehnte. Konkret 21 Jahre. So lang war sie mit ihrem gewalttätigen und kontrollsüchtigen Mann verheiratet. Als sie sich trennen wollte, lauerte ihr der Mann bei der U-Bahn-Station Pilgramgasse auf, zückte ein Messer und stach ihr damit mehrmals in den Bauch.
Am Dienstag muss sich der 52-jährige Serbe deshalb im Landesgericht für Strafsachen in Wien wegen Mordversuchs verantworten. Einsichtig ist er nicht. „Sie wusste, welchen Charakter ich habe. Wenn es so schlimm gewesen wäre, warum hat sie das dann 21 Jahre erduldet?“, fragt er.
Er prüfte ihr Handy, installierte eine Überwachungsapp, baute Kameras in der Wohnung auf, um seine Frau zu überwachen. „Das hab ich ihr nur erzählt, aber gestimmt hat das nicht“, sagt der Angeklagte zu den Kameras. Er war fest überzeugt, seine Frau betrügt ihn. Erst verdächtigte er sie einer Liaison mit seinem eigenen Sohn aus erster Ehe, später sah er im Mann einer Arbeitskollegin einen Nebenbuhler.
Ob er eifersüchtig ist? „Wenn du jemanden nicht liebst, bist du auch nicht eifersüchtig“, rechtfertigt er.
Überraschend sprachen die Geschworenen den Angeklagten am Abend mit 4:4 vom Mordversuch frei. Der vorsitzende Richter Etl setzte das Urteil daraufhin postwendend aus.
Immer noch ein Tabu
Gewalt gegen Frauen, wie in dem oben beschriebenen Fall, ist ein massives gesellschaftliches Problem, das, obwohl häufig vorkommend, immer noch tabuisiert ist. Jede fünfte Frau ist irgendwann in ihrem Leben körperlicher und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt.
Die Dimension des Problems ist auch in den Statistiken der vergangenen Jahre „gut“ abgebildet. Femizide haben sich laut Vereinigung Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF) von 2014 bis 2018 verdoppelt, 2021 wurden 29 Frauen, darunter ein Kind, ermordet.
Und es geht 2022 so weiter. So hat die Vereinigung AÖF bereits sieben Morde im familiären Umfeld dokumentiert, dazu eine Reihe schwerer Gewalttaten. Dazu noch eine Statistik aus dem Justizministerium: 2019 bis 2021 wurden 12 Frauen pro Jahr wegen versuchten oder vollendeten Mordes verurteilt, im gleichen Zeitraum allerdings 77 Männer pro Jahr.
Gewalt in der Familie, Gewalt vor allem an Frauen und Kindern, beginnt aber schon lange vor einem Mordversuch. In nur einem Jahr ist die Zahl der verhängten Betretungs- und Annäherungsverbote von 11.600 auf über 13.600 im Vorjahr gestiegen. Jetzt, 10 Tage vor Ende des ersten Quartals, sind 3.031 Betretungsverbote ausgesprochen worden – im Schnitt 38 pro Tag.
Erste Hilfe per Telefon
Eine Entwicklung, die sich auch bei der Frauenhelpline niederschlägt. Dort, unter 0800 222 555, haben die Anrufe von gewaltbetroffenen Frauen stark zugenommen – laut Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin der Vereinigung Autonome Frauenhäuser, sind es bis zu 36 Anrufe pro Tag, Tendenz steigend.
Früher waren es im Durchschnitt 22 Anrufe pro Tag. Zuletzt gab es übrigens während der Finanzkrise 2009 einen ähnlichen Anstieg zu verzeichnen. Und zu Weihnachten, im Urlaub und an Feiertagen ist immer erhöhte Vorsicht geboten.
Gefahren erkennen
Vor dem ersten Übergriff gibt es meist Anzeichen. Wenn der Partner eifersüchtig ist und droht, er die Frau kontrolliert, vielleicht in einer früheren Partnerschaft bereits gewalttätig war. Maria Rösslhumer rät Frauen, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Wenn man sich bedroht fühlt und in der Partnerschaft verängstigt ist, sei es ratsam, sich an die Helpline oder die Polizei zu wenden.
Rösslhumer: „Je früher, desto besser. Beim ersten Übergriff, sei es verbal oder körperlich. Ein Anruf bei der Frauenhelpline kann ein Leben retten.“
Zivilcourage gefragt
Was auch Leben retten kann, ist Zivilcourage. Denn viele von Gewalt betroffene Frauen erzählen, dass sie sich gar nicht vorstellen können, niemand würde ihre prekäre Situation wahrnehmen. „Stop Partnergewalt“ hat in einem Leitfaden für Nachbarn, Verwandte und Bekannte zusammengefasst, wann es Zeit sein könnte, zu helfen – etwa bei häufigem Schreien aus der Nachbarwohnung, oder wenn die Frau nie alleine unterwegs ist.
Dabei gehe es nicht um Vernaderung, sondern um echte empathische Hilfe. Auch eine „paradoxe Intervention“ kann helfen. Bei Verdacht anläuten und nach einer Rolle Klopapier oder etwas ähnlichem fragen, sagen die Expertinnen von Stop Partnergewalt.
Zusätzlich gibt es auch ein Hilfsangebot für Männer, die Gefahr laufen, gewalttätig zu werden: Sie haben die Möglichkeit, ihr Verhalten zu ändern. Hilfe gibt es unter 0800 246 247 oder bei einer Männerberatungsstelle (maennerberatung.at).
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