Gutachter-Misere: Gefährliche Täter verschwinden im "Bermuda-Dreieck"

(Symbolbild)
Nach Doppelmord: Wenig Honorar, fehlende Kooperation zwischen Justiz und Medizin – so entstehen Fehleinschätzungen.

Der gesuchte mutmaßliche Doppelmörder von Stiwoll in der Steiermark ist kein Einzelfall. Friedrich Felzmann ist der Justiz seit Jahren als unberechenbar bekannt, wurde aber nicht als gefährlich eingestuft.

Heute wird in Wien der Fall eines 28-jährigen paranoid schizophrenen Frühpensionisten verhandelt, der seit fünf Jahren auffällig ist. Er war mehrfach stationär in Behandlung, wurde aber jedes Mal wieder entlassen. Der Verlauf seiner Krankheit ist laut einer Sachverständigen "chronisch produktiv", anders ausgedrückt: Da war längst Feuer am Dach.

Eine Woche vor der Tat wurde dem von Anwalt Roland Friis vertretenen Mann von seinem Psychiater geraten, sich freiwillig in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Der 28-Jährige folgte der Empfehlung nicht – und schlug einen ehemaligen Nachbarn mit einem drei Kilo schweren Eisenhammer fast tot. Jetzt soll der "immens gefährliche" Unzurechnungsfähige (Gutachten) eingewiesen werden.

Weshalb werden gefährliche Entwicklungen immer wieder zu spät erkannt?

Qualitätsstandards

Schon vor Jahren hat eine vom Justizministerium eingesetzte Expertengruppe zur Reform des Maßnahmenvollzugs festgestellt, dass Qualitätsstandards für psychiatrische Prognosebegutachtungen fehlen. Und dass es an Koordination zwischen allen Akteuren mangelt. Der Strafvollzugsexperte und Kriminologe Wolfgang Gratz war Mitglied der Reformgruppe. Er empfiehlt eine Koordination zwischen Gesundheitssystem und Strafrechtspflege abseits von Akutfällen, um Überschneidungen und das "Bermuda-Dreieck", in denen gefährliche Entwicklungen nicht erkannt werden, aufzuspüren.

Derzeit sei die Medizin nur für Personen mit psychischen Störungen zuständig, die akut fremdgefährlich sind. Und die Justiz nur für solche, die bereits ein Delikt gesetzt haben, das mit einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe bedroht ist. Das Zwischenfeld bleibt offen.

Eine Option könnte sein, Personen mit einem Gefährdungspotenzial für andere im Rahmen des Unterbringungsgesetzes zu einer ambulanten Behandlung bei einem psychosozialen Dienst zu verpflichten.

Den Fall in Stiwoll kennt Gratz nur aus den Medien. Aus der von einer Kommission aufgearbeiteten Tragödie am Wiener Brunnenmarkt (ein amtsbekannter psychisch kranker Obdachloser erschlug eine Frau) habe man aber gelernt, dass der Psychiater mit seiner Gefährlichkeitseinschätzung nur "ein Akteur unter vielen" sein kann: "Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichtsbarkeit, Bezirksverwaltungsbehörde, ambulant psychosoziale Dienste, sie alle müssen miteinander Kontakt halten."

Das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie hat in einer Forschungsarbeit festgestellt, dass vor allem in Graz "feste Arbeitsbeziehungen" zwischen den Richtern und immer denselben Sachverständigen bestehen, die in ihren Gutachten in einem "Baukastensystem" auf Textbausteine zurückgreifen, um mehr Aufträge erfüllen zu können. Andere Stellen, die Einschätzungen abgeben können, werden ausgeschlossen.

"Es werden ja auch immer wieder die gleichen Standardfragen gestellt", wehrt Thomas Mühlbacher, Leiter der Staatsanwaltschaft Graz, den Vorwurf der "Textbausteine" ab. Er sieht indes ein anderes Problem: "Es gibt nur ganz wenige psychiatrische Sachverständige, die für uns Gutachten machen. Eine Auswahl von zwei, drei Leuten wäre bei uns schon Luxus. Aber meistens reduziert es sich auf einen Gutachter, der bereit ist und den Fall übernimmt."

Magere Bezahlung

Das liege schlicht am Geld. Psychiater sind Ärzte, damit ist die Honorierung ihrer Gutachter-Tätigkeit an das Gebührenanspruchsgesetz gebunden. Die Bezahlung ist mager: 25,20 Euro für einfache körperliche Untersuchungen bis zu einer zeitaufwendigen, neurologischen Untersuchung mit einer Pauschale 167 Euro: Das sind jene Fälle, bei denen es unter anderem auch um Einweisungen in Anstalten geht, also potenziell gefährliche Täter erkannt werden müssen.

"Aber der Tarif deckt bei weitem nicht das ab, was ein Psychiater am freien Markt oder bei einem Privatgutachten für einen Anwalt bekommen würde", betont Mühlbacher. "Also sind wir froh um Gutachter, die bereit sind, um dieses Geld für uns zu arbeiten." Gerecht scheint das System tatsächlich nicht: Psychologen und Wirtschaftsprüfer können ihre regulären Tarife verrechnen. Vor allem in den langen Wirtschaftsverfahren können da schon ein paar hunderttausend Euro zusammenkommen.

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