„Es war nicht klar, dass wir schon auf einem Pulverfass sitzen“
Der Infektiologe Günter Weiss bekam vor einem Jahr Österreichs erste Corona-Fälle zu Gesicht. Ein Gespräch über Ischgl, Anfeindungen und das Licht am Ende des Tunnels.
KURIER:Sie haben vor einem Jahr die ersten Covid-Patienten Österreichs – ein junges Paar aus Italien – behandelt. War Ihnen damals klar, was auf das Land zurollt?
Günter Weiss: Das war eigentlich niemandem klar. Damals war man noch der Meinung: Jetzt sind halt ein paar Fälle aufgetaucht. Dass wir schon auf einem riesigen Pulverfass sitzen – es gab ja auch bereits Patienten in ganz Europa verteilt –, war eigentlich nicht klar. Genauso, wie sich das mit dieser weltweiten Pandemie weiter entwickeln würde.
Zunächst blickte ganz Österreich nach Innsbruck. Wie haben Sie die Situation damals erlebt?
Man lernt über die Erkrankung erst, wenn man sie selber sieht: Was für Erscheinungen sie hat, was für Behandlungen es gibt, wie man diese optimieren kann. Und welche Probleme auftreten können. Einerseits bei der Erkrankung aber auch rundherum. Da tauchen Probleme auf, die für einen Mediziner sehr schwierig sind: Behördliche Vorgaben, Richtlinien, Juristisches wie Absonderungsbescheide, sich ständig ändernde Regeln. Das Drumherum hat sehr viel Zeit, Energie und Schlaf gekostet.
Anfang März ist der Cluster in Ischgl aufgebrochen. Auch der berühmt gewordene Barkeeper war bei Ihnen in Behandlung. Wann war für Sie klar, dass in dem Skiort etwas außer Kontrolle geraten ist?
Ich kann schwer sagen, was da in dem Skiort abgelaufen ist. Durch den Cluster hat man viel über die Tücken dieser Infektion gelernt. Nämlich, dass doch ein Großteil der Betroffenen recht milde Symptome hat, dadurch am öffentlichen Leben teilnimmt und so auch die Infektionen weitergetragen werden. Und das zweite: Dass Ansteckungen erfolgen, bevor überhaupt Symptome auftreten, was eben zu diesen Ausbrüchen geführt hat. Wo viele Leute eng beisammen sind und feiern, kann das entsprechend eskalieren.
Nicht nur beim Feiern.
In dieser Pandemie sieht man immer auch die Schatten- und Randseiten der Gesellschaft. Ob das die Feierkultur war, ob das prekäre Arbeitsverhältnisse wie in der Fleischindustrie waren oder Flüchtlingsheime, wo oft der Zugang zu medizinischer Versorgung nicht funktioniert. Oder dass es Personen gibt, die es sich einfach nicht leisten können, krank zu sein. Das ist einerseits für diese Personen eine Katastrophe, aber spielt andererseits auch eine Rolle bei der Ausbreitung.
In Ischgl wurde dann – allerdings begleitet von Chaos – eine Quarantäne zur Eindämmung verhängt.
Im Endeffekt waren die Maßnahmen, die gesetzt wurden, die richtigen. Einfach aufgrund dessen, dass man noch nicht gewusst hat, wie groß der Eisberg eigentlich ist, auf dem wir bereits sitzen, war es die adäquate Maßnahme. Was man zu dem Zeitpunkt bereits gesehen hat, war, dass in Zams zunehmend Leute ins Krankenhaus gekommen sind. Man musste davon ausgehen: Wenn es dort so ist, dann muss es woanders auch sein, weil diese Skigebiete ja keine Enklaven sind.
Gegen die von Ihrer Kollegin, der Virologin Dorothee von Laer, vorgeschlagene Isolation Tirols haben Sie sich aber zuletzt klar ausgesprochen. Muss die südafrikanische Mutation nicht mit allen Mitteln eingedämmt werden?
Wenn ich irgendwo einen Ausbruch habe, muss ich ihn bestmöglich eindämmen. Es muss aber auch klar sein, dass sich diese Virusmutation schon über ganz Europa verbreitet hat. Das lässt sich nicht verhindern. Man muss Maßnahmen treffen, damit sich die Ausbreitung verlangsamt oder insbesondere das Infektionsgeschehen rasch unter Kontrolle bringen. Den Krieg gegen die Mutation, die sehr besorgniserregend ist, muss man aber vor Ort gewinnen.
Haben Sie keine Sorge, dass Ihre Stationen bei einer Beschleunigung der Infektionen durch die Varianten wieder schnell am Anschlag sind?
Natürlich betrachtet man das Geschehen immer mit Sorge. Vor allem im Hinblick darauf, dass es vermutlich eine erhöhte Ansteckungsrate – bei der britischen und der südafrikanischen Variante – gibt. Damit kann ich mir ausrechnen, dass es prozentuell auch mehr Patienten auf den Stationen geben wird. Momentan geht es relativ gut.
Die Einschätzungen von Wissenschaftern sind zum Teil der tagespolitischen Debatten geworden. Wie geht es Ihnen damit?
Das ist ganz schwierig. Am Anfang, wo das losgegangen ist, war mein Ziel, zu informieren. Mit der Zeit wurde man immer mehr in eine Rolle gedrängt, politische Entscheidungen zu kommentieren. Das versucht man zwar zu umgehen, aber es gelingt nicht immer. Mitunter sagt man dann das, was man für das Richtige hält. Aber wir haben in dieser Pandemie jeden Tag eine Flut an neuen Informationen. Da können sich Einschätzungen ändern. Niemand kann von sich behaupten, dass er immer das Richtige gesagt hat.
Unterschiedliche Ansichten sind in Wissenschaftskreisen nichts Ungewöhnliches. Verstehen Sie, dass das in der aktuellen Situation in der Bevölkerung für Verwirrung sorgt?
Wissenschaftler sind es gewohnt, sich auszutauschen. Diese Diskussion ist jetzt halt sehr viel in die Öffentlichkeit getragen worden. Das trägt natürlich zur Verunsicherung bei. Aber auch wenn zwei Wissenschaftler das Gleiche meinen, sagen sie es vielleicht anders, weil sie von unterschiedlichen Standpunkten kommen. Der eine ist aus der klinischen Praxis, der andere mehr aus der Theorie oder der Mathematik, der Hygiene oder der Epidemiologie. Letztendlich entsteht der Benefit, wenn alle diese Disziplinen zusammen sind und nicht nur ein Infektionsproblem sehen, sondern das gesamte Umfeld.
Der Isolationsvorschlag von Frau von Laer hat ihr massive Anfeindungen eingetragen. Ähnliches kennt man aus anderen Ländern. Wie geht es Ihnen damit?
Es haben sich extreme Positionen in der Bevölkerung gebildet. Da gibt es die, die sich weniger darum scheren, die die eine riesige Angst haben und irgendwas dazwischen. Je nach Aussage sagen die einen – cool, genau meine Linie – und die anderen sagen, das ist ein kompletter Irrer. Man bekommt auch Mails mit Drohungen, was alles andere als lustig ist. Im Endeffekt versucht man, eine Einschätzung zu machen. Und ich unterstelle allen, die da beteiligt sind, dass es unser Ziel ist, zur Lösung des Problems beizutragen – wenn vielleicht auch von unterschiedlichen Standpunkten aus.
Müssen sich Forscher fürchten?
Es ist halt unangenehm. Das Feedback von den Leuten ist aber in der überwiegenden Zahl ein positives. Aber mit Gewalt und Drohungen, irgendwelche Argumente zu unterstreichen, macht sie nicht besser.
Am Beginn der Pandemie standen Mediziner einem unbekannten Feind gegenüber. Was hat sich seit damals für sie als Arzt geändert?
Es war ein unbekannter Feind, über den wir viel gelernt haben. Es hat noch nie eine Infektionskrankheit gegeben, wo in einem Jahr so viele Informationen zusammengekommen sind und es gelungen ist, in einem Jahr einen Impfstoff zu entwickeln. Das ist einzigartig in der Medizingeschichte. Wir haben etwa gelernt, dass je nach Verlauf der Erkrankung unterschiedliche Therapien eine Rolle spielen und wir die Patienten informieren sollten, wann sie ins Krankenhaus müssen. Was wir nach wie vor nicht in der Hand haben, ist ein effektives Medikament.
Eine immer wieder gehörte Devise lautet: Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben. Ist das nicht grandios gescheitert?
Ich glaube, wir sind noch in dieser Lernphase. Es gilt nach wie vor: Wir werden mit diesem Virus leben müssen. Und wir können hoffen, dass es sich dann irgendwann auf die kalte Jahreszeit beschränkt und uns im Rest des Jahres in Ruhe lässt und die Impfungen effektiver werden. Im Endeffekt wird es wie bei der Grippe sein, dass wir den Impfstoff jährlich adaptieren. Es wird vielleicht das ein oder andere nicht mehr so sein, wie es vorher war.
Nämlich?
Man wird ein bisschen mehr auf Hygiene achten. Es wird nicht mehr so sein, dass in der Arztpraxis alle, die rotzen und husten, mit den anderen beisammensitzen, sondern das infektiöse von nicht infektiösen Patienten getrennt werden.
Wie lange ist der viel zitierte Tunnel noch, an dessen Ende Licht wartet?
Das müssen Sie die fragen, die immer wieder von diesem Tunnel reden (lacht).
Wagen Sie eine Prognose, wie sich der Sommer heuer für die Österreicher gestalten wird?
Ein wesentlicher Punkt ist sicher, wie gut das mit dem Impfen funktioniert. Ein zweiter Punkt ist sicher die Frage, welche Rolle die Mutationen spielen. Was uns entgegenkommt ist sicher der Klimawechsel. Mit der warmen Jahreszeit werden die Infektionen auch weniger werden. Im Sommer ist zu erwarten, dass eine gewisse Normalität wieder eintritt.
Was lässt Sie hoffen, dass Corona den Alltag nicht ewig bestimmt?
Einerseits die Impfung und andererseits, dass es früher oder später ein Medikament gibt, um schwere Fälle zu behandeln. Ich hoffe auch, dass man mit ein bisschen mehr Normalität diejenigen, die man verloren hat, weil sie das nicht mehr mitmachen können oder wollen, wieder ins Boot holt und gewisse Regeln wieder eingehalten werden.
Würden Sie sich nicht wünschen, irgendwann wieder normal Ihrer Arbeit nachgehen zu können, statt ständig Fragen zu beantworten?
Ja gerne. Vor allem hätte ich gerne, dass das eigene Leben wieder normal ist.
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