Not macht erfinderisch: Die Renaissance des Fensterbankerls
Es ist eine Erinnerung an die Kindheit im Innsbruck der 70er-Jahre: Die Temperaturen sind frühsommerlich. Die Oma hat einen Polster, der nur fürs Fensterbankerl ist und nun wieder zum Einsatz kommt. Darauf gestützt lässt es sich stundenlang vom kommunalen Wohnblock aus nach draußen blicken.
Dem Enkel wird erklärt, dass es erst wieder an den See geht, wenn die Berge schneefrei sind. Also ab in den Hof. Oma drückt derweil die Fensterbank. Von dort wird mit Nachbarn getratscht. Und – so viel Ehrlichkeit muss sein – die eigene Neugier befriedigt.
„Die Neuigkeiten gab es quer über die Straße oder von Fenster zu Fenster. Man hielt ein Schwätzchen ab“, erzählt Jens Dangschat, Wohnsoziologe der TU Wien.
„Damals gab es noch nicht so viele Fernsehprogramme und kein Internet. Und es tat sich draußen auch noch mehr, da noch viel mehr Fußgänger unterwegs waren“, sagt der gebürtige Hamburger, der seit 22 Jahren in Wien lebt.
Von Gesicht zu Gesicht
Das Fensterbankerl feiert derzeit eine regelrechte Renaissance. Gezwungenermaßen. Für ältere Menschen ist in Corona-Zeiten das Gespräch vom Fenster in den Hof mitunter die einzige Möglichkeit, mit ihren Enkeln oder Kindern von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.
Diese Not macht erfinderisch. So mancher lässt sich in Wien derzeit sogar die Einkäufe durchs Fenster liefern. Ein kleiner Korb, eine belastbare Schnur. Schon ist der improvisierte Lastenlift zur kontaktlosen Übergabe perfekt.
Und die Krise hat noch ein Phänomen, das in Italien seinen Ausgang nahm, in die Großstadt gebracht. Bei Fensterkonzerten wird – immer um 18 Uhr – über die Straßen hinweg musiziert.
Oder zumindest das Radio laut gestellt. (Wien wäre freilich nicht Wien, wenn zu viel südländische Lebensfreude nicht auch den Grant befeuern würde: „Ruuhe! So schen ist des ned!“, brüllt eine Wienerin in einem Video, das auf Social Media Kultstatus hat.)
Wieder andere klatschen aus dem Fenster – eine Solidaritätskundgebung für die Hilfskräfte. „Das Klatschen, das Musizieren sind neue Formen, mit der Isolation umzugehen, sich gegenseitig Mut zu machen“, sagt Dangschat.
Das Fenster ist somit wieder Tor zur Welt. Die Anonymität, die sich in Städten breitgemacht hat, endet ein Stück weit. „Einige Nachbarn sehen sich erstmalig, weil man aus dem Fenster sieht oder auf den Balkon hinaustritt“, sagt der Soziologe. Plötzlich wird den anderen zugenickt, ganz Mutige lassen sich sogar zu einem Winken verleiten.
Der Nachbar, das unbekannte Wesen. Dass er dazu wurde, hat unter anderem mit der über Jahrzehnte gesteigerten Mobilität und Flexibilität zu tun. Ein Job und eine Wohnung ein Leben lang, das gibt es nicht mehr. Mieter siedeln in Österreich im Schnitt fünf Mal in ihrem Leben um.
Im gleichen Haus geboren
Das wirkt sich auch auf Nachbarschaften aus, die laut Dangschat früher anders geprägt waren: „Man kannte sich untereinander und war teilweise im gleichen Haus geboren, in dem man dann selbst 30, 40 Jahre lebte.“
Anonymität war da ein Fremdwort: „Man kannte die Nachbarschaft als Bestandteil des eigenen Lebens. Man half sich. Es gab nicht viel außerhalb. Man hatte teilweise das gemeinsame Klo am Gang.“
Verklärt werden darf der Blick auf die Zeit der Fensterbankerldrücker aber nicht. „Das war auch soziale Kontrolle. Wir wurden vom Hausmeister erzogen. Das war eng und spießig. Wir haben versucht, uns daraus zu befreien“, erinnert sich der emeritierte TU-Professor an seine eigene Kindheit.
Die Kehrseite der Befreiung aus dieser Überwachung: „Wir haben auch die positiven Dinge verloren. Etwa, dass Kinder noch auf der Straße spielen konnten. Das war ja teilweise auch eine wohlmeinende Kontrolle.“
Die teils schwer durchschaubaren Beschränkungen bieten den Vernaderern nun eine neue Spielwiese (siehe Artikel unten). Dass ihre Zahl in der Krise zugenommen hat, glaubt Dangschat nicht: „Einzelne haben ihre Blockwartmentalität aber nie ganz aufgegeben.“
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