Mutationen "werden uns um die Ohren fliegen": Wie Experten zuletzt warnten

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Die Euphorie nach den sommerlichen Lockerungen ist fast in ganz Europa wieder verflogen. Experten warnen vor der nächsten Corona-Welle. Ein Überblick.

Bisher war es in der Corona-Pandemie meistens so: Regierungspolitiker lassen sich von ausgewählten Experten beraten, gießen dann die vorherrschende wissenschaftliche Meinung in entsprechende Verordnungen, die politisch und rechtlich machbar sind.

In diesem Sommer scheint dieses Verhältnis deutlich getrübt. Regierungspolitiker schworen ihre Bevölkerungen - je nach Land in Abstufungen - auf einen weitgehend unbeschwerten Sommer ein. Die Impfung wird es schon richten, so die Überzeugung, mittelfristig werde Covid-19 zu einem „individuellen medizinischen Problem“, wie es zum Beispiel Bundeskanzler Sebastian Kurz am 10. Juli formulierte.

Da die Infektionen jetzt wieder zu steigen beginnen, melden sich immer mehr Experten zu Wort. Ein Überblick über die bisherigen Warnmeldungen.

"Müssen jetzt extrem aufpassen"

"Wir müssen jetzt extrem aufpassen, dass wir nicht in eine Lage wie in den Niederlanden kommen, wo sich die Infektionszahlen innerhalb einer Woche versiebenfacht haben", sagte Epidemiologe Gerald Gartlehner am 12. Juli in der ZiB 2. Mittelfristig sei die Strategie, die Bevölkerung in die Eigenverantwortung zu entlassen, richtig, jetzt sei es dafür aber noch zu früh. Der Epidemiologe sprach sich dafür aus, die 3-G-Regeln in der Nachtgastronomie strenger zu gestalten und konnte sich auch vorstellen, Corona-Tests kostenpflichtig zu machen, um die Menschen zur Impfung zu bewegen. Eine Impfpflicht im Gesundheitsbereich wie in Frankreich hielt Gartlehner für überlegenswert.

"Gefahr für große Ausbrüche"

Komplexitätsforscher Stefan Thurner warnte am 13. Juli im KURIER vor zu viel Lockerheit: "Wir brauchen einen Sicherheitspuffer. Sollte die Durchimpfungsrate bei circa 60 Prozent stagnieren, wird die Gefahr für große Ausbrüche bleiben.“

Simulationsforscher Niki Popper zeigte sich vom Anstieg der Zahlen nicht überrascht, er sei die logische Konsequenz aus den Öffnungsschritten. Um die Dynamik zu bremsen, müssten zwei Dinge getan werden: "Möglichst viele Menschen durchimpfen und Testscreenings durchführen", so Popper im KURIER.

"Impfen wirklich zu wenig"

Umweltmediziner Hans-Peter Hutter plädierte auf Ö1 für weiterhin "einfache, kleinere Maßnahmen" über den Sommer. Das sei besser "als tatsächlich wieder größere Bewegungseinschränkungen hin in den Herbst hinein". Man dürfe nicht vergessen, "es sind noch viele nicht geimpft und einige werden auch nicht impfen gehen, beziehungsweise einige können auch gar nicht geimpft werden, sodass man sich nur auf das Impfen stützt, aus meiner Sicht wirklich zu wenig ist", sagte der Forscher vom Zentrum für Public Health der MedUni Wien. Zieht man in Betracht, dass Hutter stets einen ganzheitlichen und nicht den rein epidemiologischen Ansatz verfolgt, waren das schon recht mahnende Worte.

Hutter verwies neben Schulen sowie Spitälern auf "viele Innenraumsituationen, die nach wie vor Achtsamkeit benötigen". Es sei "sicherlich an der Zeit, dass man natürlich Lockerungen durchführt". Auf der anderen Seite sei "alles viel zu schnell gegangen" und es brauche "nach wie vor doch auch seitens unserer Regierung gewisse Rahmenbedingungen, die vorgegeben werden", warnte er.

Mutationen "werden uns um die Ohren fliegen"

Am drastischsten formulierte es der Molekularbiologe Ulrich Elling dieses Wochenende in der Wiener Zeitung: „Es ist davon auszugehen, dass wir eine massive Welle im Herbst haben werden, die wir gar nicht so ohne weiteres eingrenzen können. Der Jahreszeiten-Effekt ist für 40 Prozent der Infektionen verantwortlich. Im Winter werden uns Delta und ihre Nachfolgerinnen um die Ohren fliegen.“

Elling rechnete vor, warum eine 70-prozentige Impfquote nicht mehr ausreicht, um die Verbreitung zu stoppen. Die Delta-Variante sei infektiöser: "Eine Person steckt sechs Personen an, weswegen wir 85 Prozent der Menschen wirksam immunisieren müssen, damit die Kette gebrochen ist. Jedoch wirkt gegen Delta die Impfung ein bisschen schlechter.“ Das heißt: „Selbst wenn wir 100 Prozent der Bevölkerung impfen, kommen wir nicht auf die 85 Prozent, die wir bräuchten, um die Ansteckungskette zu unterbrechen. Das Thema Herdenimmunität ist vorbei.“

Es gehe jetzt um „individuellen Schutz“, erklärte Elling. „Die Impfungen schützen weiterhin sehr gut vor schweren Verläufen. Da die Ansteckungshäufigkeit bei Delta doppelt so hoch ist wie bei Alpha, setzt sich, wer nicht geimpft ist, einem großen Risiko aus. Aus diesem Grund benötigen wir wahrscheinlich eine Impfpflicht."

"Superspreading-Events... können für einen Flächenbrand sorgen"

Zuletzt sorgten die teils gut besuchten Spiele der Fußball-Europameisterschaft für Entsetzen bei vielen Virologen. Dorothee von Laer von der Uni Innsbruck nahm sich danach aber mit dem Frequency Festival das Top-Event der heimischen Musikbranche vor. Der Krone sagte sie: „Aufgrund der Ausbreitung der Delta-Variante ist ein solch riesiges Festival derzeit nicht zu rechtfertigen.“ Von Laer warnte vor einem „Flächenbrand“: „Die Veranstaltung hat das Potenzial, zu einem Superspreading-Event zu werden, sodass das Virus in die Herkunftsregionen der Gäste verbreitet werden würde.“

Wenige Tage später reagierte die St. Pöltener Stadtpolitik und drehte das mehrtägige Massenfestival per Verordnung ab.

Virologin Dorothee von Laer von der Medi-Uni Innsbruck

Dorothee von Laer

Maßnahmen wieder verschärft

Bei den Salzburger Festspielen wunderten sich deutsche Besucher des „Jedermann“, dass hier nur eine Maskenempfehlung gilt und alle Plätze besetzt werden dürfen. Im Vorfeld der Festspiele rührte sich erste Kritik am Sicherheitskonzept - und die kam von Hans-Peter Hutter. Er meinte, er hätte entweder die Maskenpflicht oder eine Sitzplatzbeschränkung beibehalten. Nun, nach einem ersten Coronafall bei der „Jedermann“-Premiere“ am vergangenen Samstag, führen die Festspiele die FFP2-Maskenpflicht wieder ein.

Derweil verschärfen einige Länder ihre Maßnahmen für die Nachtgastronomie (z.B. Niederlande, Österreich), Italien und Frankreich preschten mit einer Impfpflicht für das Gesundheitspersonal vor, Griechenland kündigte sie an. Österreich diskutiert derzeit darüber, eine solche auch für junge Lehrer einzuführen, in Italien wird eine Impfpflicht für alle Lehrer geprüft.

"Freedom Day" in Großbritannien

Gegenläufig ist die Politik im Vereinigten Königreich. Dort ließ Premierminister Boris Johnson am Montag den „Freedom Day“ feiern. Masken sind nun an den meisten Orten freiwillig, genauso wie Abstandhalten. Es gibt keine Beschränkungen mehr für Clubs oder private Partys, auch Theater und Kinos dürfen ihre Säle voll besetzen. Geübt wurde dafür bereits beim EM-Finale im Londoner Wembley-Stadion.

Währenddessen lässt die hochansteckende Delta-Variante die Zahl der Corona-Infizierten in Großbritannien immer weiter ansteigen, die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei 376. Pro Tag werden fast täglich mehr als 50.000 Fälle registriert - beinahe so viele wie zum Höhepunkt der zweiten Welle zum Jahreswechsel.

Mayr (ORF) zum Ende der CoV-Vorschriften in England

"Unethisches Experiment"

Mehr als 1.200 Wissenschaftler hatten sich davor zusammengetan, um mit einem im Wissenschaftsjournal The Lancet veröffentlichen Brief vor einer Gefahr für die Welt und einem Nährboden für Virus-Varianten, gegen die die Impfstoffe nicht wirken, zu warnen. „Wir glauben, dass die Regierung ein gefährliches und unethisches Experiment anfängt und appellieren daran, die geplanten Öffnungen zu pausieren“, hieß es in dem am 7. Juli veröffentlichten Brief.

Inzwischen haben 88 Prozent der Erwachsenen im Vereinigten Königreich eine erste Impfung erhalten. Knapp 68 Prozent sind bereits zweimal geimpft. Doch Experten zweifeln daran, dass das ausreichen wird, um einer großen Infektionswelle standzuhalten. Dem Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College in London zufolge ist es "beinahe unausweichlich", dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen die Marke von 100.000 bald überschreitet. "Die echte Frage ist, ob es sogar doppelt so viel wird, oder sogar noch mehr", sagte Ferguson der BBC. Im schlimmsten Fall, wenn die Zahl der Krankenhauseinweisungen 2.000 oder 3.000 täglich erreiche, müssten doch wieder Maßnahmen ergriffen werden, um die Lage wieder in den Griff zu kriegen, warnte er.

Der Premier, für den eine Verschärfung der Maßnahmen dem Bruch eines politischen Versprechens gleichkäme, hat sich allen Warnungen zum Trotz fürs Pokern entschieden. Die BBC nannte es "Freedom Day-Glücksspiel“.

Österreich: Zahl an neuen Erstimpfungen sinkt

Während auch in Österreich rasch steigende Infektionszahlen vorhergesagt werden, stagnieren die Erstimpfungen - eine ausreichende Durchimpfungsrate scheint in weiter Ferne. Laut AGES-Zahlen gab es zuletzt zwar die meisten Neuansteckungen in der Altersgruppe zwischen 15 und 24 Jahren, doch Simulationsforscher Martin Bicher von der TU Wien warnte am 16. Juli vor dem "Überschwappen" auf vulnerable Altersgruppen und erinnerte an die Entwicklung im Vorjahr.

Aktuell habe die Bevölkerungsgruppe im Alter von 60 Jahren und darüber noch weniger als zehn Prozent Anteil am Fallgeschehen und eine kaum sichtbar wachsende Dynamik, führte der Experte gegenüber der APA aus. "Die Erfahrungen zeigen, dass die Infektionsdynamik schnell auch im Laufe einer Infektionswelle in andere Altersgruppen überschwappen kann". Man rechne zwar damit, "dass dieses Überschwappen durch die Impfquoten in den vulnerablen Altersgruppen langsamer vonstatten gehen wird, passieren wird es aber wohl", sagte Bicher.

Er verwies dabei auf die aktuellen Intensivbelagszahlen aus Großbritannien, die inzwischen mit leichter Verzögerung langsam steigen. Würde dies auch in Österreich erfolgen, so habe sich im Vergleich mit dem Vorjahr "eigentlich nichts an den Kapazitätslimits geändert", und da wurde es mit rund 2.000 bis 4.000 täglichen bestätigten Neuinfektionen "langsam enger", und bei spätestens 7.000 ging es damals in die Nähe der Auslastungsgrenze.

Vierte Welle wird erwartet

Wissenschafter der Technischen Universität Berlin erwarten anhand von Modellierungen eine vierte Corona-Welle. "Laut unseren Simulationen wird im Oktober ein exponentieller Anstieg bei den Krankenhauszahlen starten. Falls die derzeitige Entwicklung anhält, wird dies sogar früher beginnen, und sich im Oktober dann noch mal verstärken", heißt es im neuen Bericht der Gruppe um den Mobilitätsforscher Kai Nagel, der am 17. Juli bekannt wurde.

Den zuletzt bereits verzeichneten Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenzen wertet das Team wegen der hohen relativen Zunahmen als "beunruhigend". Nur wenn die Impfstoffe gegen Delta deutlich besser wirkten als derzeit bekannt oder wenn eine Impfquote von 95 Prozent erreicht werde, bleibe eine vierte Welle in den Simulationen aus. Das Modell ergebe "unter allen derzeit realistisch erscheinenden Bedingungen eine vierte Welle bei den Erwachsenen, welche mit der Verlagerung von Aktivitäten in Innenräume im Herbst verstärkt werden wird."

Kurz: "Virus wird uns noch Jahre beschäftigen"

Die Warnungen der Experten werden also wieder dringender. Und die Politik greift sie wieder auf. So sagte Kanzler Kurz bereits am 12. Juli in New York: "Das Virus wird nicht verschwinden, es wird bleiben. Es wird uns noch Jahre beschäftigen.“ Und er warnte: "Für jeden, der geimpft ist, ist die Pandemie vorbei. Für jeden, der nicht geimpft ist, ist das Virus ein massives Problem.“ Ein Anstieg der Ansteckungszahlen "wird auch bei uns stattfinden", sagte er. Nach eineinhalb Jahren Erfahrung mit dem Coronavirus wisse man nämlich: "Diese Pandemie kommt in Wellen."

Ministerium: "Besorgniserregendes Szenarium"

Am 15. Juli folgten dann die ersten Verschärfungen, das Gesundheitsressorts sprach in einem Papier von einem aktuell "sehr besorgniserregenden Szenarium". Dabei wurde ausgeführt, dass der Anstieg der Zahlen zuletzt unterschätzt wurde. Sollte sich das fortsetzen, "finden wir uns in absehbarer Zeit in einem bedrohlichen Szenarium wieder“.

In der "ZiB2" hatte Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) betont, dass man angesichts weiter steigender Zahlen frühzeitig reagieren müsse, um nicht die Fehler des vorigen Sommers zu wiederholen. Jetzt gebe es noch die Möglichkeit, "an kleinen Schrauben zu drehen". Wenn sich die Intensivstationen wieder füllen würden, wäre es zu spät. 

Am Donnerstag tagt erneut die Corona-Taskforce. Dabei könnte es zu weiteren Maßnahmen kommen. Mückstein wird neuerlich auf verpflichtende PCR-Tests für Reisende aus Risikogebieten drängen. Auch eine Erweiterung der Risikogebiete könnte aus Sicht des Gesundheitsministers notwendig sein.

Was ist mit Drosten?

Nur einer meldet sich derzeit kaum zu Wort, der im Vorjahr so verlässlich warnende Virologe Christian Drosten. Zuletzt plädierte er Ende Juni angesichts der Entwicklung dafür, das Bewusstsein für die Bedeutung der Impfung zu stärken. "Das ist wirklich das, was wir jetzt machen müssen", sagte der Experte der Berliner Charité im NDR-Podcast "Coronavirus-Update".

Er legte sich nicht fest, ob es wegen der Ausbreitung der Delta-Variante bereits im Sommer oder erst im Herbst zu einer Trendumkehr kommen könnte. Im Herbst werde die Inzidenz auf jeden Fall wieder steigen, sagte Drosten und betonte die Wichtigkeit der Impfung bei Eltern von Schulkindern. "Wir müssen einfach schnell impfen", lautete sein Appell des Virologen. Reiche dies nicht, müsse man erneut mit Kontaktbeschränkungen gegensteuern. "Aber es gibt auch gute Gründe zu denken, dass das in Deutschland nicht notwendig wird."

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