Kein Unterricht möglich
Der Wiener Pflichtschulgewerkschafter Thomas Krebs beschreibt die Folgen: „Das Leistungsniveau an den Schulen wird zunehmend nach unten nivelliert, auch weil klassischer Unterricht kaum möglich ist.“
Die Statistik bestätigt das: Mittlerweile gehört ein Viertel der Schülerinnen und Schülern in Österreich zu den leistungsschwachen Jugendlichen, 16 Prozent zu den Risikoschülern – bei Testungen in Mathematik, Naturwissenschaften und im Lesen erreichen sie nur die unterste Kompetenzstufe.
Das ist für die Betroffenen selbst ein Problem, weil sie sich zukünftig weder ihren Lebensunterhalt erarbeiten, noch in der demokratischen Gesellschaft mitgestalten können. Und es ist auch für die Industrie eine Herausforderung: Eine österreichweite Erhebung des Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft bei Unternehmen offenbarte, dass fast die Hälfte der Betriebe mehr Lehrlinge ausbilden würde, wenn sie geeignete und interessierte junge Menschen finden würden. Doch die werden immer rarer.
Keine Lehrstelle
Besonders Jugendliche mit Migrationshintergrund haben es schwer auf dem Lehrlingsmarkt. Zudem sind sie überproportional häufig unter den Jugendlichen vertreten, die die Pflichtschule ohne Abschluss verlassen bzw. ihre Bildungslaufbahn vorzeitig abbrechen. Gudrun Feucht, Bereichsleiterin für Bildung in der Industriellenvereinigung, fordert deshalb: „Es braucht eine Qualitätsoffensive in der Grundbildung. Das muss künftig ein zentrales Anliegen der Bildungspolitik sein.“
Doch die Lehrpersonen werden während ihres Studiums kaum auf die Realität im Klassenzimmer vorbereitet, kritisiert Gewerkschafter Krebs. „Das Studium ist zu akademisch und zu wenig praxisorientiert. Ich würde dafür plädieren, den Studentinnen und Studenten vorrangig das Rüstzeug mitzugeben, das alle Lehrkräfte benötigen und die Weiterbildung an der Praxis orientieren.“
Lehrkräfte sind nicht nur schlecht vorbereitet, sie sind auch ungleich über Österreich verteilt: Während in Wien in einer Klasse manchmal bis zu 30 Kinder und Jugendliche sitzen, gibt es in Landgemeinden Klassen mit 15 Kindern und zwei Lehrern.
Andreas Ambros-Lechner von der Mega-Bildungsstiftung stellt fest: „Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist in Österreich so gut wie in kaum einem anderen Land. Dafür sind wir bei dem Unterstützungspersonal Schlusslicht.“ Laut Statistik Austria kommen auf eine Volksschullehrkraft 9,2 Kinder, in den Mittelschulen sind es 6,7. Viele Lehrkräfte fragen sich jetzt, wo diese sind – in Wiener Klassen eher nicht.
Auch das Elternhaus ist gefragt
Bei aller Kritik am Schulsystem: Können Schule und Kindergarten gerade bügeln, was im Elternhaus versäumt wurde? Thomas Krebs ist überzeugt, dass die Grundlagen für schulischen Erfolg in der Familie gelegt werden: „Bildung fliegt einem nicht zu, dafür müssen Eltern schon sehr früh etwas tun, indem sie sich mit ihren Kindern beschäftigen. Wenn ich etwa in den Öffis beobachte, wie die Kleinen die Kommunikation mit den Eltern suchen, diese aber nur ins Handy schauen, tut mir das weh.“ Krebs fordert, dass man Eltern bewusst machen müsse, dass ihre Kinder in diesem Land alle Möglichkeiten haben. „Sich nur in die Opferrolle zu begeben und zu sagen, das Bildungssystem tut zu wenig, reicht nicht.“
Elternarbeit ist deshalb für Ambros-Lechner ein zentraler Punkt – auch hier gibt es in Österreich im internationalen Vergleich ein Defizit: „Wir wissen von Schulen, in denen Lehrkräfte die Eltern einfach nicht erreichen. Da gibt es eine soziale, habituelle Barriere. Auf der anderen Seite gibt es die Helikoptereltern, die mit ihren Kindern im Maturajahr gemeinsam auf die Schularbeit lernen.“ Aus der Wissenschaft wisse man, dass sich die Leistungen der Schüler verbessern, wenn Schule und Eltern kooperieren.
Enge Klassenzimmer machen aggressiv
Bei der Bildungsstiftung habe man auch andere Faktoren untersucht: „Es fehlt auch an Platz“, stellt Ambros-Lechner fest. Ist es in Ganztagsschulen eng, steigt am Mittag die Aggression – sowohl bei den Kindern als auch bei den Lehrpersonen. Auch das Thema psychische Gesundheit fände viel zu wenig Beobachtung, kritisiert er. Kinder, die bis nachts um 2 Uhr am Handy hängen und am nächsten Tag müde sind, sind kein Einzelphänomen – das ist in der Stadt ebenso ein Problem wie auf dem Land. „Das wird in der Bildungsdebatte viel zu wenig diskutiert.“
Was das österreichische Bildungssystem noch auszeichnet, sei die fehlende Verantwortung: „Wer fühlt sich für die Leistung des Kindes verantwortlich? Die Verantwortung wird zwischen Lehrkraft, Schulleitung, Bildungsdirektionen und Ministerium oftmals hin und her geschoben.“ Wo sich niemand zuständig fühlt, passiert auch nichts.
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