"Die Zahlen sind dramatisch", sagte Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (NEOS) bei einem Mediengespräch am Dienstag. 44,6 Prozent der Erstklässlerinnen und Erstklässler, die eine öffentliche Volksschule in Wien besuchen, hatten am Stichtag 1. Oktober einen "außerordentlichen Status".
Das bedeutet, rund die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der ersten Volksschule verfügen nicht über ausreichende Sprachkenntnisse, um dem Unterricht problemlos folgen zu können. "Natürlich gibt es zu Beginn des Schuljahres mehr außerordentliche Schüler als am Ende, da im Laufe des Jahres einige den MIKA-D Test schaffen oder rausfallen", ergänzt Wiederkehr.
Deutlicher Anstieg
Im Vergleich mit den Werten von Oktober 2023 lässt sich dennoch ein klarer Anstieg feststellen: In Wien waren es laut Bildungsressort in den öffentlichen Volksschulen im Oktober 2024 insgesamt 15.613 (knapp 21 Prozent). "Das heißt, wir haben einen Anstieg von 0,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr", so der Bildungsstadtrat. In der ersten Schulstufe sei diese Entwicklung mit 44,6 Prozent (8.342 Kinder) am deutlichsten gewesen.
Diese Entwicklung könne man abseits von Wien auch in anderen Bundesländern beobachten, erklärt Wiederkehr.
Österreichweites Problem
So habe sich die Anzahl von außerordentlichen Schülerinnen und Schülern der ersten Klassen seit dem Schuljahr 2017/18 verdreifacht, in der Steiermark hat sich der Wert im selben Zeitraum nahezu verdoppelt. Lediglich in Oberösterreich ging der der Anteil an außerordentlichen Schülern von 23,1 Prozent auf 21,6 Prozent zurück - wobei Oberösterreich immer noch den zweithöchsten Anteil aller Bundesländer vorweist.
"Wir haben österreichweit eine dramatische Situation", warnt Wiederkehr.
Doch woran liegt das?
Laut Wiederkehr sei diese sprachliche Entwicklung auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Zum einen seien unterschiedliche Fluchtbewegungen, etwa aus Syrien oder der Ukraine dafür verantwortlich. Zum anderen spiele die Pandemie eine tragende Rolle: Das Aussetzen der Schulpflicht, des verpflichtenden Kindergartenjahres und der Sprachförderung würden sich nun bemerkbar machen. "Wir sehen jetzt zeitverzögert, dass die Pandemie einen massiven Einfluss auf die Sprachentwicklung hat", so der Bildungsstadtrat.
Außerdem spiele die Digitalisierung eine Rolle: So zeige sich verstärkt, dass Eltern weniger mit ihren Kindern kommunizieren würden, dafür die Smartphone-Nutzung höher sei, so Wiederkehr. "Einem Kind ein Handy in den Kinderwagen zu stellen, ist nicht förderlich für den Spracherwerb. Kinder brauchen Kommunikation und Zuwendung." Deshalb müsse man bei der Aufklärung ansetzen.
Zu wenig Personal
"Es wird nur mit bundesweiten Maßnahmen gelingen, das in den Griff zu bekommen", so Wiederkehr. Und mit jenen ist er derzeit nicht zufrieden, denn Planstellen für Deutschförderung würden nicht ausreichen. In Wien seien laut dem Büro Wiederkehr für das Schuljahr 2023/24 nur 230 vom Bund genehmigt worden. 273 weitere Förderkräfte bezahlte die Stadt Wien aus eigener Tasche.
Zum Vergleich: 2017/18 seien es noch 365 gewesen, obwohl der Bedarf damals noch geringer gewesen sei als in der Gegenwart.
Was Wiederkehr fordert
Wiederkehr sprach sich angesichts dessen erneut für verpflichtende Deutschkurse im Sommer und mehr Personal aus. So sollen zum Beispiel zweiwöchige Kurse im Sommer verordnet werden können, wenn ein entsprechender Lernbedarf bestehe. Auch das zweite verpflichtende Kindergartenjahr ist Wiederkehr weiterhin ein Anliegen.
Seine Forderungen will er in die laufenden Koalitionsgespräche einbringen. "Die Deutschoffensive hat oberste Priorität für uns in den Regierungsverhandlungen", sagte er. Für die Umsetzung seiner Förderagenden rechnet der Wiener Vizebürgermeister mit Ausgaben von rund 100 Millionen Euro im Bund, denn es bräuchte österreichweit mindestens 20.000 zusätzliche Lehrkräfte und Elementarpädagoginnen und -pädadogen. "Deutsch ist in Wien und Österreich nicht optional, sondern verpflichtend", betont Wiederkehr.
Was die Opposition sagt
„Wiederkehr lamentiert über steigende Zahlen, aber er ignoriert, dass er selbst mitverantwortlich für diese Entwicklung ist. Vier Jahre lang hat er die Chance gehabt, gegenzusteuern - und nichts ist passiert“, heißt es indes in einer Aussendung von Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp. Zudem versuche sich der Bildungsstadtrat,"durch den Verweis auf die Bundesregierung aus der Veantwortung zu stehlen", denn Wiederkehr habe sein Versprechen gebrochen, die Schulen während der Pandemie offen zu halten.
Ähnlich sieht das Harald Zierfuß, Bildungssprecher der ÖVP-Wien: "Wiederkehrs tägliche Ausreden und Ausflüchte sowie das permanente Abschieben der Verantwortung an den Bund sind fahrlässig". Dies zeige, dass er seiner Verantwortung nicht gewachsen ist, kritisiert Zierfuß.
Zudem reiche ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr nicht aus: "Wir brauchen eine Kindergartenpflicht für alle Kinder mit Deutschförderbedarf bereits ab drei Jahren inklusive massiver Deutschförderung für diese Kinder vor Ort. Dem vorausgehen muss eine verpflichtende Sprachstandsfeststellung für alle dreijährigen Kinder in Wien“, heißt es in einer Aussendung der Wiener ÖVP.
Die Wiener Grünen verorten indes ein systematisches Problem: "Die Daten zeigen eindeutig ein systematisches Versagen bei der Deutschförderung im Kindergarten - vor allem von Kindern, die hier geboren sind. Diese Aufgabe liegt in der alleinigen Verantwortung von Stadtrat Wiederkehr und hat nichts mit Fluchtbewegungen und fehlenden Planstellen im Schulbereich zu tun”, sagen die beiden Bildungssprecher Julia Malle und Felix Stadler.
Kommentare