Amokfahrt in Graz: "Ein Stück der Hölle“
„Mein erster Gedanke war: Das gibt es nicht. Das kann nicht sein“, erinnert sich Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, ÖVP. „Das kann in Graz einfach nicht sein.“
Und doch ist es passiert: Am 20. Juni 2015 raste ein Amokfahrer vom Westen kommend durch die Stadt. Zuerst rammte und tötete er Adis D. in der Zweiglgasse vor Hausnummer 12. Der 26-Jährige hatte erst zwei Wochen zuvor geheiratet.
20. Juni 2015
Samstag, 12.04 Uhr: Ein grüner SUV rast durch die Zweiglgasse, erfasst Adis D., 26. Michaela S., 53, und der erst vierjährige Valentin werden in der Herrengasse getötet. Um 12.10 Uhr stoppen Polizisten den Amokfahrer in der Schmiedgasse
28. Juni 2015
Nach einer Woche offizieller Stadttrauer gingen 12.000 Menschen in einem Schweigemarsch die Strecke der Amokfahrt ab
Dezember 2015
Das erste Gerichtsgutachten über Alen R. liegt vor: Psychiater Manfred Walzl stuft ihn als zurechnungsfähig ein
Februar 2016
Aufgrund der Schwere der Tat hat die Justiz einen zweiten Psychiater bestellt: Peter Hoffmann erklärt R. als nicht zurechnungsfähig
Juni 2016
Die Expertise eines Gutachters gibt den Ausschlag: Auch Jürgen Müller stuft R. als unzurechnungsfähig ein
September 2016
Die Staatsanwaltschaft beantragt aufgrund der Unzurechnungsfähigkeit nur eine Einweisung. Am 29. September befinden die Geschworenen R. aber für zurechnungsfähig und schuldig des Mordes
Juni 2017
Das Oberlandesgericht Wien bestätigt: Lebenslange Haft, das Urteil ist rechtskräftig
Sechs Minuten später stoppten Polizisten den Wagen, einen alten grünen SUV, in der Schmiedgasse mitten in der Innenstadt. In diesen sechs Minuten tötete der Lenker zwei Menschen in der Herrengasse: Michaela S., 53, vor Haus Nummer 23. Und den kleinen Valentin, erst vier Jahre alt. Er starb vor dem Haus mit der Nummer 17.
In diesen sechs Minuten wurden 53 Menschen zum Teil schwer verletzt.
108-facher Mordversuch
In diesen sechs Minuten gefährdete der Amokfahrer mehr als 100 Passanten: 108-facher Mordversuch wurde dem Mann beim Prozess, 14 Monate nach der Amokfahrt, angelastet.
Und der Täter, Alen R.?
„Zeitweise lacht er sogar“, zitierte der Ankläger einen der vielen vor dem Prozess befragten Zeugen. Alen R., bei der Amokfahrt 26 Jahre alt, null Promille Alkohol im Blut, gab im Verfahren jedoch ein völlig anders Bild. Er trat im September 2016 stets weiß im Verhandlungssaal gekleidet auf, gab sich unwissend, uneinsichtig, teilnahmslos. Und ohne Reue.
Extremistischen Hintergrund fanden die Kriminalisten keinen, R.s Motiv blieb unklar. Psychologin Anita Raiger vermutete, dass der „kaltherzige, gefühllose, berechnende“ Mann sich einfach wegen echter oder vermeintlicher Kränkungen habe rächen wollen: An der Ehefrau, die ihn verlassen wollte, an der Gesellschaft.
Zurechnungsfähig
Dass R. trotz der Auffassung zweier Psychiater, die ihn zwar als gestört, aber unzurechnungsfähig einstuften, verurteilt wurde, lag an den Geschworenen: Sie setzten sich über den bloßen Einweisungsantrag der Staatsanwaltschaft hinweg.
Die Ankläger hatten wegen der psychiatrischen Gutachten keine Chance, eine Mordanklage einzubringen. Deshalb war R. nicht „Angeklagter“, sondern „Betroffener“.
Bis zum Urteil am 29. September. Die Laienrichter nahmen R. die Geisteskrankheit nicht ab und zweifelten wie Richter Andreas Rom: „Spielt er uns etwas vor?“ Sie erklärten R. als zurechnungsfähig: Der nun Angeklagte wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, das Urteil ist rechtskräftig.
Im Gedächtnis geblieben
Fünf Jahre danach erinnert in der Stadt selbst kaum noch etwas an die Amokfahrt, zumindest nicht offensichtlich. Die Schutzmaßmaßnahmen (siehe Zusatzbericht) sind allerdings auch eine Folge der Fahrt vom 20. Juni 2015.
Im Gedächtnis vieler ist der Tag aber präsent, fast jeder Grazer weiß, wo er war, als er von der Amokfahrt erfuhr: Landeschef Schützenhöfer war bei einem Feuerwehrfest im südsteirischen Gamlitz und Bürgermeister Siegfried Nagl mitten unter den direkt Betroffenen:
Der ÖVP-Stadtchef war mit seiner Vespa unterwegs und konnte dem auf ihn zurasenden Amokfahrer gerade noch auf den Gehsteig ausweichen.
„Wenn du als Bürgermeister erleben musst, was da in deiner Stadt passiert dann zerreißt’s dich“, sagte Nagl Tage danach. „In den Augen des Amokfahrers habe ich ein Stück der Hölle gesehen.“
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