2015: Der Sommer, der alles veränderte
Und dann war nichts mehr, wie es vorher war. Als am 27. August 2015 die Leichen von 71 Flüchtlingen auf der A4 bei Parndorf in einem Kühl-Lkw gefunden wurden, war das Entsetzen groß.
Es war der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die NGOs, Politik und Zivilgesellschaft seit Monaten in Atem hielt: Mehr als 800.000 Flüchtlinge kamen 2015 in Griechenland an und machten sich auf den Weg nach Mitteleuropa. Bereits ab März waren vermehrt Asylanträge gestellt worden. Im Juli war das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen heillos überfüllt.
Bis zu 4.500 Personen statt der zugelassenen 1.800 Menschen lebten dort, mussten im Freien schlafen – darunter auch Neugeborene. Erst im August richtete die Regierung eine „Task Force Asyl“ ein. Obwohl Experten gewarnt hatten, traf die Anzahl der Flüchtlinge die Politik unvorbereitet. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits tausende Menschen in Ungarn gestrandet. Während sie in den Balkan-Ländern durchgewunken worden waren, ließ die ungarische Regierung sie nicht weiterreisen.
Am 31. August machte ein Satz Geschichte: „Wir schaffen das“, so die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in Hinblick auf die zu erwartende Zahl an Flüchtlingen. Da waren schon Tausende Richtung Österreich unterwegs. Am 4. September die historische Entscheidung: Merkel und Kanzler Werner Faymann öffneten die Grenzen. Was folgte, ging als „Willkommenskultur“ in die Geschichte ein. 8.500 Menschen kamen allein am 5. September am Westbahnhof an. Sie wurden unter Applaus von hunderten Freiwilligen empfangen. „Was wir damals erlebt haben, war ein staatliches Multiorganversagen. Es wurde nur durch die Zivilgesellschaft kompensiert“, sagt Asylexperte Christoph Riedl von der Diakonie.
Überfordert
Tatsächlich wirkte die Politik überfordert, es gab zu wenig Quartiere, keine Strukturen für die Aufnahme so vieler Menschen – 88.340 suchten um Asyl an.
Die Folgen des Sommers wirken bis heute nach. So wurde das Asylgesetz novelliert, „Asyl auf Zeit“ eingeführt. Grundversorgung und Rechtsberatung wurden verstaatlicht. Obwohl die Kriminalität während der Flüchtlingskrise nur leicht anstieg (von 2015 auf 2016 um 3,8 Prozent), wurde der Ton im politischen Diskurs rauer. Hat Österreich aus den Geschehnissen gelernt? Nein, meint Riedl. Stattdessen seien Strukturen abgebaut worden. Auch ein derartiges zivilgesellschaftliches Engagement hält er nicht mehr für möglich. Dazu kommt: Eine EU-weite Asylpolitik fehlt weiterhin. Im griechischen Flüchtlingscamp Moria warten 14.000 Menschen.
Der KURIER zeichnet die Schicksale von Flüchtlingen, die hiergeblieben sind und sich integrieren wollen, nach. Was wurde aus ihnen?
Ayaz S. versucht, positiv zu klingen, doch man spürt seine Verbitterung. „Es ist nicht einfach für mich. Ich warte schon so lange. Ich habe fast fünf Jahre gewartet. Angefühlt hat es sich wie zehn.“
Es war der Dezember 2015, als S. in Salzburg ankam. Drei Monate zuvor war der junge Afghane aus seinem Heimatdorf geflüchtet. Mittlerweile lebt S. in Wien und möchte seinen echten Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Denn: Noch immer ist S.s Asylverfahren nicht abgeschlossen. Für ihn heißt es warten und bangen, denn in erster Instanz ging sein Verfahren negativ aus.
Dabei hat der 23-Jährige eigentlich einen großen Traum: Er möchte eine Lehre zum Elektriker machen. Doch eine Lehrstelle für Menschen im Asylverfahren – die gibt es derzeit nicht. Doch S. will etwas weiterbringen, er besuchte Deutschkurs um Deutschkurs, holte seinen Pflichtschulabschluss nach und besucht nun die Abendschule. Denn wenn schon keine Lehre, dann vielleicht Matura und ein Studium. Und vor allem einen Job. Eine eigene Wohnung, das wäre für ihn was. „Ich bin jetzt in der Grundversorgung, ich habe nicht viel Geld“, erzählt er.
In Österreich fühlt er sich zu Hause, geht gerne wandern, macht Party und isst Hühnerschnitzel „Ich habe viele Freunde, die sind für mich schon wie eine Familie.“ Er engagiert sich beim Verein „Start with a friend Austria“. Was er sich wünscht: Hier bleiben zu dürfen und keine Zeit mehr verschwenden zu müssen.
Shafiullah „Shafi“ Nazarie erinnert sich noch gut an seine letzten Stunden in Afghanistan. Sein Bruder Asmatullah arbeitete damals für die Amerikaner als Übersetzer. Nachdem die Taliban das herausgefunden hatten, war für die beiden Nazarie-Brüder klar, dass es kein Leben in Afghanistan mehr geben wird.
Nach der Flucht war es für den 22-Jährigen nicht einfach, Fuß zu fassen. Er lebte in der Flüchtlingsunterkunft „Haus Anissa“ in Langenzersdorf in Niederösterreich. Dass er sich so gut integrieren konnte und Deutsch gelernt hat, führt er auf den Sport zurück. „Das war für die Integration besonders wichtig. Und dass ich da bin, wo ich jetzt bin, verdanke ich Mario.“ Mario Kreiner war Obmann der DeLaSalle Saints, eines Football-Teams in Strebersdorf. Er kam mit Bällen in das Flüchtlingsheim und wollte den jungen Asylwerbern das Spiel näher bringen.
„Ich wollte den Sport unbedingt ausprobieren“, erzählt Shafi. Und er ist bis heute dabei geblieben und ein fester Bestandteil der Saints. „Ich konnte kaum Deutsch sprechen und mir war immer langweilig. Und ich hatte auch keine Freunde hier. Die Mannschaft hat mich aufgenommen, mir die Sprache und die Kultur Österreichs beigebracht. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar.“
Erst 2019 hat Shafi, nach vier Jahren, seinen positiven Asylbescheid bekommen. Mittlerweile hat er einen Hauptschulabschluss und einen Job bei einer Securityfirma in Wien.
Von einem Feld in Afghanistan auf eine Baustelle im Iran, ins Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, in die HTL Mödling und jetzt als Vollzeitarbeitskraft in einen Elektriker-Betrieb in Mödling. Ali Mardan Mohammadi ist mit 17 Jahren nach Österreich geflüchtet. Er war ganz alleine, Deutsch konnte er nicht. Er erinnert sich: „Das war alles sehr schwierig für mich“.
Nun, fünf Jahre später, sieht Ali sich als neuen Menschen: „Ich bin viel offener, gehe auf Leute zu“, erzählt er. In den vergangenen Jahren hat er Deutsch und Englisch gelernt: „Ich kann jetzt mit jedem Menschen auf der Welt in Kontakt treten, jeden kennenlernen und verstehen – egal, wo die Person herkommt oder welchen Hintergrund sie hat“, sagt der nun 22-Jährige. Knapp drei Jahre musste er auf einen positiven Asylbescheid warten. Er erzählt von einem langen Hin und Her, am Ende hätte er zwei Tage mit Interviews auf der Behörde verbracht, aber dann hat es geklappt. Noch während er die HTL-Fachschule besuchte, hat er – als er die Erlaubnis hatte – einen Nebenjob begonnen, um Geld zu verdienen und eigenständig zu werden.
Nun hat er eine Fixanstellung, nach vier Jahren Schule spricht er gutes Deutsch und ist ausgebildeter Elektriker. Neben dem Vollzeitjob will er jetzt auf der Abendschule noch die Matura machen, im Anschluss studieren. In seiner Freizeit spielt er Fußball, sowohl im Verein als auch mit seinen Freunden aus Traiskirchen. „Wir sind fast alle alleine hier und hatten anfangs nur uns. Auch, wenn ich hier viele nette Leute kenne, oft fehlt mir meine Familie sehr“, sagt er.
An den Sommer 2015 kann sich Luai Alhussein ganz genau erinnern. Damals ist er mit seinem um ein Jahr jüngeren Bruder Judi vor dem Krieg in seiner syrischen Heimat geflüchtet. „Am 29. Juli sind wir über die Grenze nach Nickelsdorf gekommen“, erzählt der heute 29-Jährige. Bis heute sind die beiden in dem burgenländischen Grenzort geblieben.
Der KURIER hatte das Brüderpaar im September 2015 getroffen. Während sie wehmütig an ihre Familie zu Hause dachten, halfen sie den ankommenden Flüchtlingen, wo es ging. „Ich habe für das Rote Kreuz und die Polizei übersetzt, zum Beispiel, wenn es medizinische Probleme bei Flüchtlingen gab“, schildert Luai. In einem Gasthaus im Ort haben die Brüder ihre erste Bleibe gefunden. „Ich helfe da auch heute noch an den Wochenenden im Wirtshaus aus.“ Luai Alhussein hat in Wien eine Lehre zum Zerspanungstechniker absolviert und pendelt täglich nach Wien. Sein Bruder Judi hat Friseur gelernt und ein Haus im Ort gemietet.
„Fast 300.000 Flüchtlinge sind 2015 bei uns über die Grenze gekommen“, erinnert sich Bürgermeister Gerhard Zapfl. Luai und Judi sind im Ort sesshaft geworden. Beide haben neue Freunde hier gefunden.
Luai wird bald heiraten. Mit seiner zukünftigen Frau will er in Nickelsdorf wohnen. „Ich schicke meiner Verlobten immer Bücher auf Deutsch. Wenn sie von Syrien kommt, sollte sie Deutsch können. Denn die Sprache ist der Schlüssel im Leben. Wir müssen uns integrieren – für uns selbst und für Österreich.“
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