Eine junge Frau, Mitte 20, kommt mit schweren Verletzungen in eine Spitalsambulanz in Oberösterreich. Ein Sturz mit dem Mountainbike, sagt sie. Der Unfallchirurg erkennt, dass die Verletzungen nicht ganz ins Bild passen, spricht die Frau behutsam darauf an. Raus kommt: Sie wurde von ihrem Ex-Freund zwei Tage in der Wohnung festgehalten und schwer misshandelt.
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Alleine in den Kliniken der Oberösterreichischen Gesundheitsholding werden pro Jahr rund 500 Personen betreut, die mutmaßlich Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind und deshalb - wie die Frau aus dem Extrembeispiel - eine Spitalsambulanz aufgesucht haben und dort Hilfe über die medizinische Versorgung hinaus erhalten haben.
460 Erwachsene waren es bislang im heurigen Jahr, über 80 Prozent davon sind Frauen. Kinder sind in dieser Statistik nicht mitgezählt. Sozialarbeiterin Claudia Hoyer-Treml leitet das Netzwerk "Gewalt-, Kinder- und Opferschutz" an den Kliniken der oberösterreichischen Gesundheitsholding.
Wenn sie über die steigenden Zahlen von Gewaltopfern in den Spitalsambulanzen spricht, will sie das zwar nicht als "Erfolg" bezeichnet haben, stellt aber klar: "Wenn mehr darüber geredet wird, wenn mehr Fälle bekannt werden, bedeutet das auch, dass die Dunkelziffer niedriger wird."
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Denn davon müsse immer noch ausgegangen werden, dass sich viele, vor allem Frauen, etwa aus Scham oder auch aus Angst vor dem Verlust finanzieller Sicherheit, in Gewaltbeziehungen bleiben.
Pilotprojekt in Klinikum Vöcklabruck
In der Gesundheitsholding läuft aktuell ein Pilotprojekt zu diesem Thema im Klinikum Vöcklabruck. Nämlich, dass alle Patientinnen und Patienten in den Spitalsambulanzen standardisiert bei der Aufnahme konkret gefragt werden:
- Gibt es jemanden, der nicht wissen sollte, dass Sie gerade im Spital sind?
- Gibt es jemanden, der Ihnen Unbehagen bereitet?
- Ist Kontaktaufnahme durch Sozialarbeit erwünscht?
Hoyer-Treml ist überzeugt: "Wenn standardisiert danach gefragt wird, fällt es vielen leichter, auch darüber zu reden." Seitens der Gesundheitsholding wird in dem Zusammenhang auch auf Studien verwiesen, laut denen sich 80 Prozent der Frauen wünschen würden, nach Gewalterfahrungen gefragt zu werden.
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In den Kliniken der Gesundheitsholding, die oftmals erste Anlaufstelle für Gewaltopfer sind, hat dieses Thema deshalb einen hohen Stellenwert, betont Gesundheitslandesrätin LH-Stellvertreterin Christine Haberlander (ÖVP). "Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden geschult, zu helfen und auf die Situation der Betroffenen gut eingehen zu können", versichert Haberlander, "die Opfer sollen wissen, dass sie bei uns gut aufgehoben sind."
Dem pflichtet auch Franz Harnoncourt, Geschäftsführer der OÖ Gesundheitsholding, bei: "Wir schauen uns bei Verletzungen immer das ganze Umfeld an und haben ein waches Auge darauf, wo körperliche oder seelische Beeinträchtigungen vorliegen, um zu erkennen, ob da ein Gewalteinfluss von außen vorliegt."
Spurensicherungssets in allen Ambulanzen
Einen wichtigen Teil des Umgangs mit Gewaltbetroffenen stellt der Faktor Zeit dar. In der ersten Phase der unmittelbaren Betroffenheit seien viele mit der Situation überfordert, sagen die Experten. Dennoch sei es wichtig, bei Gewaltopfern Spuren zu sichern. "Eine Aufgabe, die ganz viel Fingerspitzengefühl verlangt", weiß Hoyer-Treml, "das dauert oft mehrere Stunden und ist für die Betroffene und die Person, die die Spuren sichert, belastend."
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Sind die Spuren einmal gesichert, bedeutet das vorerst noch nicht, dass eine Anzeige erstattet wird. Gesetzlich verpflichtet sind die Spitalsärzte bei schwerer Körperverletzung. Sonst obliegt es den Betroffenen, meist eben Frauen, Anzeige zu erstatten. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es vielen Opfern gut tut, wenn wir uns zwei oder drei Tage nach dem Vorfall bei ihnen melden."
Die gesicherten Spuren verbleiben jedenfalls ein Jahr lang in der Asservatenkammer des jeweiligen Gerichts aufbewahrt und können nach einer Anzeige noch verwendet werden. "Wir versuchen, Gewaltopfer zumindest davon zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, Spuren zu sichern, auch wenn nicht gleich eine Anzeige erstattet wird", sagt Hoyer-Treml.
Gewalt an älteren Menschen nimmt zu
Was zuletzt häufiger geworden ist: Gewalt an älteren und pflegebedürftigen Menschen im häuslichen Umfeld. Häufig Resultat einer heillosen Überforderung der pflegenden Angehörigen. Dabei betont Haberlander, dass niemand kriminalisiert, sondern Bewusstsein geschaffen werden solle: "Wenn unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etwas auffällt, bieten wir in erster Linie den Angehörigen Hilfe an, weil sie meistens einfach Unterstützung brauchen."
Dabei muss es sich lange noch nicht um körperliche Übergriffe handeln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kliniken seien auch auf psychische Übergriffe geschult.
Verpflichtende Schulungen in den Kliniken
Apropos Schulungen: Die bislang freiwillig angebotenen Sensibilisierungsschulungen auf Gewaltschutz sind in den oberösterreichischen Kliniken mittlerweile für alle Bediensteten verpflichtend durchzuführen. Was einerseits die Qualität in den Spitälern hebt, andererseits das Thema auch in die Mitte der Gesellschaft bringt, betont Haberlander: "Wir machen alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dadurch auch zu Multiplikatoren in ihrem ganzen Umfeld."
Abschließend appelliert Hoyer-Treml: "Wir möchten alle von Gewalt betroffenen Menschen ermutigen, sich in den Spitälern an uns zu wenden. Wir nehmen sie ernst."
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