Lokführer kannte die Strecke
Das Unglück ereignete sich auf der neu ausgebauten Pottendorfer Linie der ÖBB. Der Zugführer der Raaberbahn kannte den Abschnitt zwischen Deutschkreutz und Wien sehr gut, am Unfalltag fuhr er dort sogar dreimal. Beim Bahnhof Münchendorf wurde der Zug wegen einer vermeintlichen Streckenstörung auf das Gegengleis umgeleitet. Die Störung stellte sich im Nachhinein als Fehlalarm heraus. Eine Umleitung wäre gar nicht nötig gewesen.
Das Vorsignal zeigte zweimal „Gelb“, also Vorsicht, das darauf folgende Hauptsignal sprang laut Unfallbericht bei der Annäherung des Zuges von „Rot“ auf zweimal „Grün“, also Strecke „frei mit 60 km/h“.
Der Zugführer und Ausbilder mit 35 Jahren Berufserfahrung beteuerte im Prozess jedoch, dass das Signal dreimal „Grün“ anzeigte. Das Zeichen für freie Fahrt. Er ging in den Vollgas-Modus und die „Ventus“-Garnitur beschleunigte auf fast 160 Sachen. Nach einer eingeleiteten Schnellbremsung donnerten die sechs Garnituren immer noch mit 145 km/h durch die Weiche, die maximal Tempo 60 verträgt. Der Triebwagen und ein Waggon wurden durch die Luft geschleudert und in ein Feld katapultiert, vier weitere Waggons entgleisten.
24 Personen wurden leicht und zwei schwer verletzt, darunter auch der Angeklagte, der zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen musste und bis heute unter den schweren Folgen leidet. „Ich träume jede Nacht, dass die Passagiere schreien“, sagte der Ungar.
Ums Leben gekommen ist bei dem Unglück eines der größten musikalischen Talente des Burgenlandes. Der begnadete Violinist Daniel Guillén (25) wurde unter den Trümmern begraben. Seine Familie und andere Opfer fordern über 70.000 Euro Schmerzensgeld.
Kein gutes Licht werfen die Untersuchungen auf die Sicherheitsstandards im Bahnverkehr. Bereits 2021 hatte sich bei Münchendorf ein vergleichbarer Zwischenfall ereignet, der zum Glück glimpflich verlief. Obwohl die technischen Anlagen in dem Bereich im Februar 2022 von den ÖBB überprüft wurden, existieren darüber keine Protokolle. „Es gibt keinerlei Unterlagen. Das weist auf einen Mangel des Betreibers hin“, urteilt der Sachverständige.
Die neu gebaute Linie ist zwar als Hochgeschwindigkeitsstrecke bis zu 200 km/h ausgerichtet. Bis heute fehlt jedoch das dazugehörige „European Train Control System Level 2“, dass die Züge elektronisch auf ihre Geschwindigkeit überwacht und im Notfall eingreift und die Züge bremst.
Gewerkschaft reagiert
Die Gewerkschaft vida hat in einer Aussendung eine „systemrelevante Aufarbeitung des Vorfalls nach Ende des Gerichtsverfahrens“ gefordert, das sei „unumgänglich“, betonte Gerald Trofaier, Sprecher der Plattform Lokfahrdienst. Technische Komponenten und moderne Fahrzeuge seien das eine, gut ausgebildetes Zugpersonal das andere. „Die zunehmende Digitalisierung auf den Fahrzeugen und die unterschiedlichen Systeme sind für das Personal eine immer größer werdende Herausforderung und verursachen oft ungewollte Ablenkungen beim Fahren“, sagte der vida-Gewerkschafter weiter.
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