Bis 2018 durften in NÖ auch die Zweitwohnsitzer, also die „Zuagrasten“ wählen. Das war umstritten. Noch umstrittener war jene Zwischenlösung, bei der die Gemeinde feststellen musste, ob Zweitwohnsitzer ihren „Lebensmittelpunkt“ in der Gemeinde hatten. Dann durften sie nämlich wählen. 2018 war das noch so. Seit 1. Juni 2022 dürfen jetzt nur noch Niederösterreicher mit Hauptwohnsitz wählen.
Wie aber hat sich das am Sonntag ausgewirkt? Laut einer Analyse des Instituts SORA aus dem Jahr 2018 war davon auszugehen, dass vor allem die ÖVP durch die Wahlrechtsänderung verliert, während sie SPÖ und FPÖ zugutekomme. Im Jahr 2018 wählten demnach 72 Prozent aller Zweitwohnsitzer die ÖVP. „Wenn die Zweitwohnsitzer am Sonntag so gewählt hätten wie 2018, dann wäre das ein großer Vorteil für die ÖVP gewesen“, erklärt SORA-Geschäftsführer Günther Ogris auf KURIER-Nachfrage.
Aber warum hat dann auch die ÖVP mitgestimmt, als es um die Abschaffung des Wahlrechts für Personen mit Nebenwohnsitz in NÖ und Hauptwohnsitz in einem anderen Bundesland ging? Laut Ogris steckt Kalkül dahinter. „Man hat wahrscheinlich damit gerechnet, dass Grüne und Neos bei den Zweitwohnsitzern stark zulegen und dadurch einen Regierungssitz erhalten könnten.
Bei der Proteststimmung in Österreich hätten sie dort wahrscheinlich gut abgeschnitten“, erklärt er. Im Jahr 2018 erreichten die Grünen bereits acht Prozent bei den Zweitwohnsitzern.
"Demokratiepolitisch problematisch"
Allerdings sind die Abgänge für die ÖVP durchaus beträchtlich: Am stärksten hat man (mit 72.000 Stimmen) an die FPÖ verloren, das geht aus der aktuellen SORA-Wählerstromanalyse im Auftrag des ORF hervor. Am zweitstärksten verlor die ÖVP an die nun stimmlosen „Zweitwohnsitzer“ – insgesamt 36.000 Stimmen. Am stärksten in den Bezirken Gmünd und Horn, wo es den größten Rückgang von Stimmberechtigten gab.
War es jenseits strategischer Überlegungen demokratiepolitisch richtig, Zweitwohnsitzer aus dem Wählerregister zu streichen?
Von Ogris kommt ein klares „Ja“. Das Wahlrecht hatte nämlich auch den Effekt, dass jene, die Wohnsitze in zwei Bundesländern haben, indirekt über das Ergebnis der Landtagswahlen auch zwei Stimmen für den Bundesrat abgeben. Das sei „demokratiepolitisch problematisch“, sagt der Experte. Er nennt einen weiteren Grund, der wohl zur Abschaffung führte: „Es bestand die Hoffnung, dass viele Zweitwohnsitzer ihren Hauptwohnsitz in NÖ anmelden würden.“ Das wirkt sich beim Finanzausgleich positiv für die Gemeinden aus – je mehr Einwohner, desto mehr Geld gibt es vom Bund.
Zweitwohner-Metropole Semmering
Besonders viele Zweitwohnsitzer gibt es im südlichen NÖ, in den – nomen est omen – Wiener Alpen. In der Gemeinde Semmering sind die Einheimischen sogar in der Minderheit: 514 zu 903.
Für die Gemeinde ein großes Problem, bestätigt Bürgermeister Hermann Doppelreiter (ÖVP). Denn die Infrastruktur wie Straßen, Kanal, Wasser muss man für alle zur Verfügung stellen (und zahlen) – Geld in Form von Ertragsanteilen bekommt man aber nur für die Hauptwohnsitzer. Großer Anreiz zur Ummeldung war das Wahlrecht keiner. Immerhin: „Während des Lockdowns haben einige ihren Hauptwohnsitz hier angemeldet“.
Die Neuerung sieht Doppelreiter positiv, weil sie „eine klare Regelung“ sei. Auch wenn sich unter den Zweitwohnsitzern viele ÖVP-Wähler gefunden hätten. Umso überraschender, dass die ÖVP in Semmering sogar 7,4 Prozentpunkte zulegen konnte. „Wir sind von Haus zu Haus gegangen und haben motiviert, zur Wahl zu gehen“. Diese „Knochenarbeit“ habe sich ausgezahlt: „Eine Wahlbeteiligung von 75 Prozent ist sensationell, das Ergebnis von 60 Prozent auch“, sagt er.
Wahlforschung kann also nicht alles erklären.
Kommentare