Arbeitslosengeld-Sünder gesucht: "Ich prüfe Fakten, keine Menschen"
Für die Herbststimmung hat er keinen Blick. Gerhard S. ist im Weinviertel in offiziellem Auftrag unterwegs.
Er arbeitet für den so genannten Erhebungsdienst, den das AMS Niederösterreich seit einem Jahr auf die Suche nach Arbeitslosengeld-Sündern schickt. Mitunter eine sehr heikle Mission, weswegen der KURIER auch seinen richtigen Namen an dieser Stelle verschweigt.
Heute führt ihn sein Weg in eine Arztpraxis. Den Arbeitsmarktexperten in der Zentrale ist etwas aufgefallen: Die Sprechstundenhilfe in besagter Praxis war zunächst geringfügig angemeldet. Nach einem kurzen Intermezzo als normale Angestellte ist die Person nun wieder geringfügig beschäftigt. Ein Grund für Gerhard S., das Gespräch mit der Frau Doktor zu suchen. Die AMS-Spezialeinheit soll möglichen Sozialbetrug im Keim ersticken.
Im Fall der Ärztin kann S. nach kurzem Gespräch Entwarnung geben. Arbeit gäbe es genug für die Sprechstundenhilfe, allerdings kann sich die Ärztin kein volles Dienstverhältnis leisten. Da zahlt sich aus, dass der Erheber selbst jahrelang als AMS-Berater tätig war. Er weiß um sämtliche Fördermöglichkeiten, die helfen könnten.
Anruf
Mit einem Anruf bei der regionalen Geschäftsstelle leitet er alles in die Wege: Ein AMS-Kollege wird prüfen, ob eine Förderung möglich ist, um die Sprechstundenhilfe mittels AMS-Zuzahlung in ein volles Dienstverhältnis zu bringen.
„Ich finde das gut, ein tolles Service“, sagt Ärztin Doris Pfeil nach dem Termin. „Zuerst hab ich mir gedacht: Ups, AMS-Rechtsabteilung? Hab ich etwas falsch gemacht?“ Als Gerhard S. aufgeklärt hatte, worum es geht, war Pfeil erleichtert.
„Ich wäre selber nie zum AMS gegangen, um eine Förderung anzusuchen. Es ist eh schwierig genug, Beschäftigte zu finden.“
Recherche
Den Begriff Kontrollor hört Gerhard S. übrigens nicht gern. Zu negativ. „Ich überprüfe Fakten, nicht Personen“, ist ihm wichtig zu betonen. Er recherchiere vor Ort, inwieweit Dienstverhältnisse plausibel sind, um so den möglichen Missbrauch von AMS-Geld hintanzuhalten.
Das AMS sucht schwarze Schafe
So führt ihn sein nächster Besuch in eine Bezirksstadt. S. interessiert, warum ausgerechnet ein gelernter Versicherungsmakler in einer Reinigungsfirma als geringfügig Beschäftigter arbeitet – und das schon seit 2016. Obwohl die Konstellation Raum für Spekulationen zulässt, geht S. wertfrei an die Sache heran: „Die große Kunst ist, alle Bilder, die man möglicherweise von einem Fall im Kopf hat, auszublenden. Nur dann ist eine ordentliche Erhebung der Fakten möglich.“ Und nur dann hat S. die Chance, die Erklärungen, die er gleich bekommen wird, auf ihre Plausibilität hin zu prüfen.
„Es war eine harte Nuss“, wird er später sagen. Mehr als eine Stunde hat er mit dem Dienstgeber-Paar gesprochen. Dabei stellte sich heraus: die Reinigung ist nur ein Tätigkeitszweig der Firma, in der laut den Chefs „mehr als genug Arbeit“ anfällt. Warum also arbeitet der gelernte Makler nur geringfügig? Eine Frage, die sich dann auch die Dienstgeber stellen.
Und dann geht es Schlag auf Schlag: S. berichtet von einer speziellen AMS-Förderung für Arbeitnehmer über 50, die im Fall des gelernten Maklers infrage käme. Arbeitet der nämlich künftig voll angemeldet und im Unterschied zur Geringfügigkeit, wo nur eine Unfallversicherung besteht, auch voll versichert, ist er kein Kunde mehr des AMS. Dafür würde es für den Betrieb einen befristeten Lohnkostenzuschuss für den betreffenden Mitarbeiter geben.
Bedrohlich
Nicht immer enden seine Erhebungen positiv, gelegentlich kommt es auch zu durchaus „bedrohlichen Situationen“. Als er etwa einem möglichen Scheinwohnsitz auf den Grund ging, ist er vom Wohnungsbesitzer wüst beschimpft und von dessen Hund beinahe angefallen worden. „Nur eineinhalb Meter davor hat er ihn gestoppt.“
In solchen Fällen könne man davon ausgehen, dass der Klient etwas zu verbergen habe. Wird die Situation aussichtslos oder gefährlich, ziehen sich S. und seine Kollegen zurück und setzen die Überprüfung an einem anderen Tag fort. Aufgeben kommt für sie nicht infrage.
Der Erhebungsdienst des AMS NÖ ist seit Mitte September 2018 im Einsatz. 473 Fälle wurden bearbeitet, in 260 Fällen geringfügige Beschäftigungen untersucht. In 61 Fällen wurde die geringfügige Beschäftigung in eine vollwertige Stelle umgewandelt. 15-mal wurde aufgedeckt, dass kein geringfügiges Dienstverhältnis vorlag. 69-mal wurde dem Verdacht auf Schwarzarbeit nachgegangen, der sich in 10 Fällen bestätigte. 70-mal wurden mögliche Scheinwohnsitze überprüft und in 41 Fällen tatsächlich aufgedeckt. In 32 Fällen wurden die Prüfungen eingestellt.
Kontrollen
Sven Hergovich musste viel Kritik einstecken, als der AMS-NÖ-Chef vor etwas mehr als einem Jahr erstmals seinen Erhebungsdienst ausschickte. Die konsequente Vor-Ort-Kontrolle, ob Leistungen zu Recht bezogen werden, stellte ein Novum in Niederösterreich dar. Hergovich ist mit der Bilanz seiner Ermittlertruppe sehr zufrieden und sieht seine Idee bestätigt. Mittlerweile gibt es auch aus anderen AMS-Länderzentralen Interesse.
„Es war mir ein Gerechtigkeitsanliegen“, so Hergovich zum KURIER. „Es muss klar sein: Wer nicht arbeitslos ist, der bezieht bei uns auch keine Leistung.“ Ihm sei wichtig gewesen, der Bevölkerung zu zeigen, „dass wir genau hinschauen“. Der Erhebungsdienst mache diese Bemühungen sichtbar.
Der raue Wind, der ihm anfangs entgegenwehte, habe sich gelegt: „Ganz ehrlich, ich hätte nicht mit so vielen positiven Reaktionen gerechnet.“
Fairness
Nicht nur bei Arbeitsverweigerern, Verdacht auf Scheinwohnsitze oder Schwarzarbeit wird der Erhebungsdienst tätig. Auch die Prüfung von Dienstverhältnissen sei wichtig. Hergovich: „Es ist nicht egal, wie viele Stunden jemand von seinem Dienstgeber angemeldet wird.“ Darum auch die Überprüfung von geringfügigen Dienstverhältnissen: „Wer geringfügig arbeitet, ist nur unfallversichert, zahlt aber keine Arbeitslosenversicherung, keine Sozialabgaben und zahlt nicht für seine Pension ein.“ Deshalb schaue das AMS NÖ genau hin. „Ganz einfach, damit es für die Gemeinschaft der Versicherten fair ist.“
Der Erhebungsdienst gewährleiste rasche Interventionen. Viele Dienstgeber hätten sich bei Überprüfungen entschieden, geringfügige in vollversicherte Dienstverhältnisse umzuwandeln. Selbst wenn das AMS NÖ dann mitunter befristete Förderungen gewähre, „rechnet sich das volkswirtschaftlich ganz sicher“, sagt Hergovich. Vollwertig Versicherte seien keine AMS-Kunden mehr und hätten die Chance auf ein selbstbestimmtes (Arbeits-)Leben.
Der Erhebungsdienst werde mit fünf Mitarbeitern weitergeführt. „Die Kapazitäten reichen für die Zahl der Verdachtsmomente aus.“
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