Gala der Menschlichkeit: Wenn der Rückhalt von den Kollegen kommt
Von Naz Kücüktekin
Als Reinhard Artinger zum ersten Mal davon hörte, diesem „Sozius“, hielt sich die Begeisterung in Grenzen. „Ich dachte, das ist wieder etwas, was die Firma macht, es zuerst toll findet und dann eh wieder vergisst“, so der mittlerweile pensionierte Wiener Linien Fahrer. Doch sein damaliger Chef war der Meinung, Artinger müsse das machen. „Und wenn der Chef das sagt, macht man es halt.“
Mehr als ein Jahrzehnt später sagt Artinger, dass die Arbeit bei Sozius das Beste sei, was er in seinen 40 Jahren bei den Wiener Linien gemacht habe. Die Tätigkeit macht ihm so viel Freude, dass er sie sogar in seiner Pension weiter betreibt. Sozius, das ist das interne Kriseninterventionsprogramm der Wiener Linien, das nun seit 13 Jahren in Betrieb ist.
Im Jahr 2013 wurde das Projekt mit dem betrieblichen Sozialpreis ausgezeichnet. Das Prinzip ist: Kollegen helfen Kollegen. Wer mal reden will oder etwas Belastendes oder Traumatisierendes erlebt hat, kann rund um die Uhr bei Sozius um Hilfe bitten. Bis zu vier Wochen kann eine Begleitung in Anspruch genommen werden. Im Schnitt werden um die 200 Begleitungen jährlich durchgeführt. Ein Team von 25 Menschen steht dafür jederzeit zur Verfügung – ob tagsüber, in der Nacht oder am Wochenende.
Guter Ausgleich
Alle Teammitglieder machen die Arbeit bei Sozius ehrenamtlich und aus voller Überzeugung. „Man kriegt durch diese Arbeit so viel zurück. Und für mich persönlich ist es auch einfach ein toller Ausgleich zu meiner alltäglichen Arbeit“, sagt Brigitte Steininger-Lindovsky, die sonst in der Controllingabteilung der Wiener Linien beschäftigt ist.
Bei Sozius engagieren können sich im Grunde alle Mitarbeiter der Wiener Linien. Nach einer umfassenden Schulung, die intern stattfindet, und ein bisschen Praxis, die man durch die Begleitung von erfahrenen Kollegen bekommt, dürfen die Mitarbeiter auch schon selbst auf Einsatz fahren. Die Situationen, auf die sie dann treffen, können ganz divers sein.
„Wir unterschieden zwischen einer Muss- und Kann-Indikation“, erklärt Christiane Heider, Leiterin der Arbeitspsychologie der Wiener Linien. Bei einer Kann-Indikation steht es Mitarbeitern frei, Sozius in Anspruch zu nehmen. Etwa bei Fällen von Beschimpfungen oder Anrempeln. Bei der Muss-Indikation ist eine Kontaktaufnahme mit Sozius vorgeschrieben. Das ist bei gravierenden Vorkommnissen, etwa bei einem Unfall, wo jemand verletzt wurde, der Fall.
"Am Anfang war schon viel Skepsis da. Da haben nicht alle verstanden, wozu das Ganze jetzt eigentlich gut sein soll.“
„Am Anfang war schon viel Skepsis da. Da haben nicht alle verstanden, wozu das Ganze jetzt eigentlich gut sein soll“, erzählt Artinger. Auch hätten Scham oder die Angst, das Gesagte könnte weitererzählt werden, zu Beginn noch eine große Rolle gespielt.
Mit den Jahren habe sich das immer weiter verbessert, viele Vorurteile konnten aufgebrochen werden. „Das schönste ist, wenn es Menschen danach besser geht“ sagt Werner Schmidt, der seit acht Jahren bei Sozius dabei ist. „Oft ist es der Fall, dass die Menschen einiges in sich sammeln. Beschimpfungen, oder mal angespuckt zu werden, zum Beispiel, nehmen die wenigsten ernst. Doch das staut sich auf. Und dann passiert etwas, und es kommt der Punkt, wo alles hochkommt“, fügt Schmidt hinzu. Gerade die vergangenen zweieinhalb Jahre seien durch die Pandemie und deren Auswirkungen eine große Herausforderung gewesen.
„Aber das Schlimmste, was, glaube ich, passieren kann, ist, wenn ein Unfall tödlich endet“, sagt Schmidt und fügt hinzu: „Manche Sachen gehen auch einem selbst sehr nah. Da muss man sich schon abgrenzen können.“ Für Brigitte Steininger-Lindovsky sind jene Fälle am schlimmsten, wo Angehörige sterben. „Wenn es akut ist, sind wir auch für private Schicksalsschläge da. Auch das wirkt sich auf die Arbeit aus“, so die Controllerin.
Wir nominieren
Bis zur „Gala der Menschlichkeit“ am 10. November porträtiert die Redaktion 16 Menschen, die sich, uneigennützig und ohne großes Aufsehen zu erregen, in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Etwa eine ÖBB-Fahrdienstleiterin, die in ihrer Freizeit Flüchtlingen hilft; oder ein ehemaliger Wohnungsloser, der für Wohnungslose da ist. Heute: Sozius. Das ehrenamtliche Kriseninterventionsteam der Wiener Linien, wo Kollegen sich gegenseitig unterstützen
Sie nominieren
Wenn Sie auch jemanden kennen, der sich eine Auszeichnung verdient hätte, dann reichen Sie bitte jetzt ein, unter: www.kurier.at/menschlichkeit
Austausch essentiell
Dass innerhalb des Teams auch geredet wird, sei daher allen besonders wichtig. Es gibt regelmäßig Supervision für die ehrenamtlichen Helfer, damit auch sie sich alles von der Seele reden und untereinander austauschen können. „Wir sind da wirklich offen und sehr unterstützend. Teilweise sind wir schon wie eine Familie“, betont Schmidt.