Schuh geht essen: Esskultur
Von Franz Schuh
Ich habe keine Ahnung, welchen Status die Philosophie in der Gesellschaft hat. Bedeutet sie den Menschen etwas, wenigstens einer erklecklichen Anzahl von ihnen? Kommt sie den meisten lächerlich vor oder ist sie ihnen egal?
Umgekehrt fällt das Urteil leichter: Egal was Menschen von der Philosophie halten, philosophieren tun sie alle. Das Leben, der Tod, die Politik, das Gastmahl, der Hunger, alles Themen, über die kaum ein Mensch nicht philosophiert.
„Sie haben doch Philosophie studiert“, sagte meine Nachbarin aus zwei Meter Abstand zu mir, während sie den Teller mit Geschenk für mich (gebratenes Hühnchen mit Reis) auf meinen Küchentisch stellte. Ich sagte unwirsch: „Salat haben Sie keinen!?“, und sie erwiderte mit dem schiefen Bild: „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.“ – „Gaul, Gaul“, murmelte ich und verbiss mich in die Hühnerkeule.
Als ich satt war, ließ ich mich von meiner Fantasie in den Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien versetzen. Wie würde ich eine Vorlesung über die Philosophie des Essens anlegen?
Ich würde aktuell beginnen, mit einer Anekdote, die einer dieser Tyrannen lieferte. Zum Dreigestirn der postmodernen Tyrannen Erdoğan, Putin und Trump kommt – neben Orban – noch Lukaschenko dazu, der Herr über ganz Weißrussland. Ihm hatte man vorgeschlagen, Quarantänemaßnahmen im Kampf gegen Covid-19 einzuführen. „Das ist die leichteste Übung“, hat er gesagt, „aber was werden wir dann fressen?“
Ich halte mich hier nicht bei der Tyrannenmeinung auf, die Folgen des Kampfes gegen den Virus seien schlimmer als die Krankheitsfolgen des Virus. Damit wollte schon Trump punkten, und es ist klar, dass Tyrannen eine Wirtschaftskrise, die ihre Unfähigkeit entblößt, nicht dulden können. Mein Thema ist, dass Lukaschenko „fressen“ sagt.
Zu den Ambivalenzen der menschlichen Existenz gehört, dass Menschen Tiere sind und sich zugleich nicht nur für etwas Besseres halten, sondern dass sie auch tatsächlich eine andere als bloß tierische Welt etabliert haben. Der Mensch frisst nicht unbedingt, er kann auch speisen. Im Restaurant, von anderen Menschen bedient, bekommt er ausgekochte Sachen serviert, die das bloße Stillen des Hungers ad absurdum führen. Hierher passt das überstrapazierte Wort „Kultur“ und so schreibe ich ein paar Worte zur „Kultur des Essens.“
Das Wort „Kultur“ kommt aus der Landwirtschaft, „colere“ kann heißen: sein Feld bestellen. Der Landmann überfällt das Feld aber nicht mit seinen Ideen, er greift ein in das, was die Natur hergibt. Landwirtschaft ist ein Kompromiss.
Auch die „Kultur des Essens“ ist ein Kompromiss zwischen dem fressenden Menschen und dem „kultivierten“: Bekommt das Fressen Übergewicht, schmeckt man nicht, wie gut Essen sein kann.
Aber überkultiviert wird es geschmäcklerisch, snobistisch. Was eine gute Küche ist, hält genau diese Balance und macht auch Luxusrestaurants fast erträglich, deren Preise den größten Teil der Menschheit vom Genuss ausschließen.