Minus 73 Prozent: Warum die Österreicher nicht in Wien urlauben
Von Katharina Zach
443.000 Nächtigungen im Juli - statt knapp 1,7 Millionen wie im Juli 2019. Nur 23 Prozent belegte Hotelbetten - statt wie im Vorjahr 66,5 Prozent.
Für den Tourismus ist die heurige Saison nach 17,6 Millionen Nächtigungen im Jahr 2019 nahezu ein Komplettausfall.
Immerhin: Im Juli wurden zwar um gut 73 Prozent weniger Übernachtungen gezählt, doch im Juni war der Rückgang mit minus 88 Prozent im Vergleich zum selben Monat 2019 noch dramatischer. Nur 190.000 Nächtigungen gab es.
Corona setzte der Brache schwer zu. Doch es fehlen nicht nur die vielfach kaufkräftigen Fernreisenden sowie Kongressgäste, auch viele Österreicher ließen aus. Im Juli wurden mit 140.000 um 40 Prozent weniger Nächtigungen als im Vergleichszeitraum 2019 gezählt.
Daran änderten auch die Werbekampagnen des Wien Tourismus, die Gäste zur "Weltreise in Wien" verführen sollten, wenig. Die von einer Agentur ins Leben gerufene Aktion "Erlebe deine Stadt" floppte. Bisher haben nur knapp 4.000 Gäste ein Zimmer gebucht. Erhofft hatte man sich bis Ende August 20.000.
Anders ist hingegen die Lage an den Kärntner Seen oder in der Südsteiermark, wo sich die Gäste drängten und brav der Aufforderung, Urlaub im eigenen Land zu machen, folgten. Ist Wien bei den Österreichern also nicht beliebt?
See vor Stadt
Jein. Tatsächlich gilt die Bundeshauptstadt heuer nicht als Top-Reiseziel, wie Tourismusforscher Wolfgang Aschauer von der Uni Salzburg erklärt. Eine Befragung von 2.000 Österreichern der Uni Wien hat im Mai ergeben, dass nur drei Prozent ihren Urlaub in Wien verbringen wollen.
Lieber erholen sich die Österreicher (18 Prozent) in Kärnten, in der Steiermark (17 Prozent) und in Salzburg (11 Prozent). Allerdings nicht, weil das Interesse am Städtetourismus fehlt: 20 Prozent gaben bei der Befragung an, an Kultur interessiert zu sein.
Wie ist also diese Diskrepanz zu erklären? Zum einen herrsche bei den Österreichern im Sommer immer weniger Interesse an Städtetourismus, wie es beim Wien Tourismus heißt. Ein Städtetrip sei eher der Zweit- oder auch Dritturlaub.
Angst vor Infektion?
Doch auch Corona könnte nicht ganz unschuldig sein. "Es hängt möglicherweise damit zusammen, dass in Städten die Angst vor einer Infektion größer ist", meint Experte Aschauer. Nicht nur Wien, auch beliebte Destinationen wie Venedig oder Dubrovnik würden unter Gästemangel leiden.
Tourismusexperte von der FH Johanneum, Harald A. Friedl, hat eine andere Theorie. Städter, meint er, würde es eher ins Grüne ziehen. Weshalb die Bürger der Ballungsräume nun die Seen und Almen stürmen würden.
Für Wien ist das bitter. Denn die Umsatzeinbrüche sind enorm. Zwischen Jänner und Juni erwirtschafteten die Hotelbetriebe rund 142 Millionen Euro. Das sind um 68,7% weniger als im entsprechenden Zeitraum 2019.
Lange Durststrecke
116.000 Jobs hängen in Wien am Städtetourismus, österreichweit ist es im Tourismus jeder zehnte Arbeitsplatz. Mit dem völligen Ausfall von Touristen aus den Fernreisemärkten geht viel Geld verloren. Denn vor allem die Urlauber aus den USA, China und Japan lassen viel Geld da. Sie buchen etwa öfter 5-Sterne-Hotels.
Chinesische Gäste führen zudem die Liste der höchsten Shoppingausgaben an. Dazu kommt das Ausbleiben der Kongresstouristen, die pro Tag 541 Euro ausgeben. Zum Vergleich: Im Schnitt blättert ein Wien-Besucher 276 Euro hin.
Bis diese Gäste wiederkommen, werde noch einige Zeit vergehen, sind sich die Experten einig. Vor 2022 sieht Experte Aschauer schwarz. Er rät Touristikern, bei künftigen Inlands-Werbekampagnen verstärkt die Städte zu bewerben. "Das sollte meiner Meinung auch die Strategie für 2021 sein."
Auch Friedl sieht die Aufgabe darin, mehr im Land zu werben. Wien, meint er, habe es verabsäumt Sehnsuchtsort zu werden. "Die muss man entwickeln." Dabei müsste auch mehr auf Social Media gesetzt werden.
"Mitten in einer Kernschmelze"
Norbert Kettner, Chef des Wien-Tourismus, sieht das differenzierter. "Wir sind von 55 Prozent der Märkte abgeschnitten", sagt er. Ohne die sei aber kein positives Ergebnis zu erzielen. Da helfen auch alle Urlauber aus Österreich nicht. Überhaupt: Es sei naiv zu glauben, dass Reiseziele von oben oder nur durch Werbung angeschafft werden können.
Apropos Werbung: Die habe es, moderat aber doch, sehr wohl gegeben: Im Frühjahr etwa sei die Kampagne "Weltreise in Wien" gelauncht, die Stadt dadurch als Sehnsuchtsort etabliert worden. "Und wir haben die Experience Edition der Vienna City Card rausgebracht. Zielgruppe sind Wiener und Österreicher, die öfter kommen wollen."
Buchen kann man dabei exklusive Erlebnisse – etwa Führungen durch das Kunsthistorische Museum mit der Direktorin. Mit der App Ivie könnten zudem spezielle Stadtspaziergänge absolviert werden. Und die Österreicher seien auch gekommen, "vor allem die Jungen." Und die Minus 40 Prozent Nächtigung? "Das ist natürlich eine Katastrophe. Aber wir sind mitten in einer Kernschmelze."
Ohne Impfung kein Tourismus
Bei all der schlechten Nachrichten müsse man im Auge behalten, dass Wien im internationalen Vergleich noch gut dastehe, betont Kettner. Denn: Die Auslastung betrug im Juli in Wien 21 Prozent, in London waren es nur 13,2 Prozent, in Paris gar nur 9,3 Prozent. Auch die Preise für Hotelzimmer hätten nicht so stark nachgelassen wie in anderen Städten.
Für den Herbst ist eine neue Kampagne für Gäste aus Deutschland, Österreich und der Schweiz geplant.
Die Maßnahmen sind wichtig. Denn mittelfristig, fürchtet Experte Aschauer, werde sich die Lage nicht ändern. Denn erst eine Impfung mache unbedenkliches Reisen wieder möglich.
Dessen ist sich auch Tourismus-Chef Kettner bewusst. Doch Gäste aus den oben genannten drei Ländern machten zuletzt nur 39 Prozent der Wien-Besucher aus. Ohne Fernreisende gehe es also nicht. Immerhin: Für 2025/26 bemüht man sich bereits um Kongresse.
Urlauben nach der Pandemie
Doch ist die Corona-Krise nicht auch eine Chance auf Veränderung? Auf einen moderaten Tourismus in Zeiten des Klimawandels?
Dass der globale Tourismus wie vor der Krise nicht weitergehen kann, liege auf der Hand meint Kurt Luger, der an der Uni Salzburg zu "Kulturellem Erbe und Tourismus" lehrt. Man müsse grundsätzlich mehr auf die einheimische Bevölkerung und nahe Märkte setzen, meint er. Jetzt sei die Chance, solche Konzepte zu entwickeln.
Die Erfolgsaussichten dafür schätzen die Experten aber gering ein. "Die Kultur des Reisens ist tief eingegraben in unsere Gesellschaft", sagt Friedl. Für eine echte Veränderung müssten Flugtickets massiv teurer werden, ist er überzeugt.
Auch Kettner meint: "Reisen ist eine unumkehrbare zivilisatorische Eigenschaft." Wenn auch künftig vielleicht vermehrt mit dem Zug.
Für Wien und Österreich, das im internationalen Vergleich nicht generell von Over Tourism betroffen ist, hat Forscher Aschauer Hoffnung. "Ich sehe schon einen Trend zur Veränderung.
Auf Nahtourismus, ökologisch sensiblen Tourismus. Ein leichter Wandel könnte sich ausgehen." Allerdings brauche eine Stadt wie Wien den Tourismus – auch den internationalen.
Und bis dahin die Österreicher.