KURIER: Wie verändern sich die Anrufe nach dem 24. Dezember?
Antonia Keßelring: Tatsächlich gehen die Anrufe nach Weihnachten nicht plötzlich zurück. Ganz im Gegenteil. Erstaunlich viele einsame Menschen haben am Heiligen Abend doch irgendwie ein ganz kleines Programm oder irgendetwas, was sie sozusagen vom Telefon fernhält. Auch viele, die in sehr schwierigen Beziehungen leben, haben ein dichtes Programm, das sie jetzt erst einmal nicht telefonieren lässt.
Weihnachten bietet also einen gewissen Rahmen.
Genau, es ist oft irgendetwas los. Und dann ist nichts mehr. Gerade für einsame Menschen, die bekommen am 24. vielleicht noch Anrufe, gehen in die Christmette oder so. Aber am 25., 26. Dezember, den Wochenenden danach bis Silvester, da ist oft gar nichts mehr. Und nicht nur das, die meisten Bezugspersonen, die man hat, sind auf der Verwandtenrallye unterwegs. Außerdem ist bei vielen zu Weihnachten sehr viel vorgefallen. Also mir kommt vor, dass man in den Tagen danach sozusagen aufräumen muss. Die „alten Gespenster“ im Familiensystem stehen rund um Weihnachten alle wieder auf. Unter dem Christbaum eskaliert es leicht. Da gibt es furchtbare Geschichten, auch viel Gewalt.
Warum gerade an diesen Tagen?
Weihnachten ist wie eine Lupe. Es vergrößert den Blick auf alles, was unter dem Jahr vielleicht eher im Hintergrund war. Und zu Weihnachten treten Familienprobleme oder das Fehlen von Familie in den Vordergrund und tun besonders weh – genauso wie Beziehungen, die belastend oder kränkend sind. Das ist wahrscheinlich das ganze Jahr über so. Aber gerade am 24. 12. ist da ein kleines Kind in uns, das Bedürfnisse hat und sich etwas wünscht, und das ist dann oft hinterher sehr traurig.
Und wie hilft der Anruf bei der Telefonseelsorge?
Auf jeden Fall können wir einmal ein Ohr anbieten für alles, was wehtut und was gesagt werden möchte. Es ist wichtig, dass man bei einem anderen Menschen Resonanz findet, dass das jemand hört und ernst nimmt. Wir können natürlich nicht die ganze Welt verändern, wir können keine Kriege befrieden – aber wir können gemeinsam schauen, was können Sie jetzt tun, heute tun, damit es Ihnen ein bisschen besser geht? Was gibt es denn noch anderes? Das ist natürlich ein Kraftakt, weil das Unglück ja einen gewissen Sog entwickelt.
Und was kommen da für Antworten?
Ganz verschiedene Dinge. Manchen hilft es, einfach mal rauszugehen, sich einen Kaffeehausbesuch zu gönnen, ein Anruf, den man schon lange führen wollte, die Musik ganz laut aufzudrehen, die Lieblingsserie anzuschauen. Kleine Dinge, die einen ein bisschen aus diesem dunklen Strudel herausholen. Nicht, dass das nicht schlimm wäre. Wir wollen nicht kleinreden, was ein Mensch aushalten muss, das ist oft sehr viel. Aber da ist ja noch mehr – und auch daran wollen wir die Menschen erinnern. Manche erzählen zum Beispiel von ihrem Kummer und finden so geniale und richtig witzige Worte dafür. Allein darauf hinzuweisen, dass da jemand ein wirklich großes Formulierungstalent hat, kann manchmal schon ein kleiner Lichtblick sein.
Was raten Sie denjenigen, die zögern, zum Hörer zu greifen?
Es gilt immer eine herzliche Einladung, bei uns anzurufen, bevor die Dunkelheit im Raum zu groß wird. Wenn das zu schwierig ist, gibt es auch unseren Sofort-Chat, man kann uns auch ein eMail schicken und sich alles von der Seele schreiben. Einfach schreiben, bis es wieder heller wird. Und noch ein Appell: Auch nach den Feiertagen nach rechts und links zu schauen, ob jemand Hilfe braucht. Einsamkeit ist überall und oft schamhaft verborgen. Schon ein kurzes Gespräch kann helfen, oder jemanden anzulächeln. Niemand glaubt, wie lange jemand, der sehr einsam ist, von einem freundlichen Lächeln im Bus leben kann.
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