Israels Rechte und die Saat der Angst

Alltag in Israel – Polizeieinsatz in Ramallah.
Die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen über Schuld, Rassismus und Opfer als Täter.

Beer Scheva am Rande der Wüste Negev. Ein Arzt überfährt eines Nachts einen illegalen Einwanderer. Es gibt keine Zeugen, und der Mann wird ohnehin sterben – der Arzt entscheidet sich, den Unfall nicht zu melden. Tags darauf steht die Frau des Opfers vor seiner Tür und macht ihm einen Vorschlag, der sein Leben aus der Bahn wirft. Die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, erzählt in "Löwen wecken", ihrem zweiten Roman nach "Eine Nacht, Markowitz", von Opfern, die gleichzeitig Täter sind und spricht im Interview über israelische Probleme jenseits der Palästinenserfrage.

KURIER: In Ihrem Roman geht es unter anderem um afrikanische Flüchtlinge. In Israel werden Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan als illegale Einwanderer eingestuft und in Lagern festgehalten. Polemisch gefragt: Darf das ein Land, das selbst von Flüchtlingen erbaut wurde?

Israels Rechte und die Saat der Angst
Autorin Ayelet Gundar-Goshen
Ayelet Gundar-Goshen:Ich stimme Ihnen zu. Wenn man an unseren Gründungsmythos denkt, als das israelische Volk aus Ägypten fliehen musste, und 40 Jahre durch die Wüste ging, um das Gelobte Land zu erreichen – und heute gehen Menschen durch dieselbe Wüste, um zu demselben "Gelobten Land" zu gelangen und wir lassen sie nicht herein: Das schockiert mich. Doch wenn wir von Realpolitik sprechen: Wenn ganz Afrika zu Fuß in das Erste-Welt-Land Israel kommt, haben wir ein Problem. Also müssen wir darüber diskutieren, wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen können. Derzeit jedoch lassen wir gar niemanden herein und stecken die Menschen stattdessen ins Gefängnis.

Von wie vielen Flüchtlingen sprechen wir?

Von 100.000 Flüchtlingen in einem Sechs-Millionen-Land. Das ist viel. Das sagt nicht nur die Rechte. Andererseits heißt das nicht, dass wir das Recht haben, immer nur wegzuschauen.

Sie sprechen auch die Situation der Beduinen an. Auch sie sind in einer schwierigen Lage.

Israels Rechte und die Saat der Angst
cover
Wir müssen zwischen den Beduinen in Sinai und jenen in der Negev-Wüste unterscheiden. In Sinai gibt es Beduinenstämme, die Flüchtlinge gefangennehmen, foltern und von ihren Familien Geld erpressen. Sie machen Geschäfte mit den Ärmsten der Armen. Auf der anderen Seite der Wüste leben die israelischen Beduinen als Bürger zweiter Klasse. Sie arbeiten, gehen zum Heer, aber leben in schlimmster Armut. Das ist eine unserer größten Tragödien. Die Wüste ist wie ein Dschungel. Ein gelber, trockener Dschungel. Die, die in der Hierarchie ganz oben sind, fressen die, die unter ihnen sind. Und die fressen die, die unter ihnen sind.

Auch Rassismus zwischen weißen und arabischen Israelis ist ein Thema Ihres Romans.

Ja, es gibt die weißen, europäischen Juden, die nach Israel eingewandert sind, und dann gibt es die arabischen, die Mizrahi Juden, die lange als Juden zweiter Klasse angesehen wurden. Ihre Kultur wurde nicht akzeptiert, man betrachtete sie als ungebildet, sagte, sie seien eben nicht Teil der europäischen Kultur, nach der sich die eingewanderten Juden nach wie vor so sehr sehnen und aus der sie ausgeschlossen wurden. Sie haben also die arabischen Juden, die diskriminiert werden; dann die diskriminierten Beduinen und ganz weit unten dann die Flüchtlinge aus Eritrea.

In Europa sprechen wir über Antisemitismus, aber dass Juden einander diskriminieren, ist uns selten bewusst.

In Europa werden Juden hauptsächlich als Opfer wahrgenommen. Und Opfer kann man sich schwer als Täter vorstellen. Die Wahrheit ist: Jeder Mensch kann, wenn er die Chance dazu bekommt, zum Täter werden. Es gibt immer eine Gruppe, die eine andere als minderwertig betrachtet. Ich habe für Menschenrechtsorganisation gearbeitet und war entsetzt, als ich erfuhr, dass es auch innerhalb der Beduinen-Community Rassismus gibt: Schwarze Frauen werden dort als minderwertig betrachtet, niemand will sie heiraten. Es genügen zwei Menschen, und schon hast du einen Stärkeren und einen Schwächeren.

Deshalb sind in Ihrem Roman alle Opfer und Täter zugleich? Auch die weibliche Hauptfigur, die Eritreerin Sirkit, ist keine Heilige. Sie erpresst den Arzt, der ihren Mann überfahren hat.

Würde ich sie komplett altruistisch darstellen, würde ich ihr das Menschsein absprechen. Kein Mensch ist gut oder böse geboren, wir alle treffen Entscheidungen. Und wir tragen alle unsere kleine bourgeoise Schuld mit uns herum, so wie der weiße Arzt. Würde Sirkit ihn nicht erpressen, könnte er nach dem Unfall zu seinem Leben zurückkehren und sich mit seiner Schuld arrangieren.

Schuld ist ein zentrales Thema dieses Buches: Die Frage, was man selbst tun würde, wäre man an der Stelle dieses Arztes, der einen Mann überfahren hat. Wir sind schnell im Schuldzuweisen, wissen immer zu gut, was andere tun sollten. Doch wissen wir es selbst?

Die Wahrheit ist: Niemand weiß es. Der Unterschied besteht bloß zwischen den Leuten, die behaupten, sie wüssten es und jenen, die zugeben, dass sie es nicht wissen. Wüsste ich es, dann hätte ich kein Buch darüber geschrieben. Aber die Chance, dass er dem Toten geholfen hätte, wenn er statt einem schwarzen Flüchtling ein weißes jüdisches Mädchen gewesen wäre, ist groß.

Ein Wort zu den Wahlen ...

Von allen Bedrohungen, denen Israel ausgesetzt ist, ist Netanyahu diejenige, die mich am meisten ängstigt. Wir sollten Islamophobie genauso wie Fundamentalismus fürchten. Ich bin sehr besorgt über den globalen Terror, aber ebenso darüber, was meine eigenen Leute tun.

Wird der weltweite Terror die Rechten in Israel stärken?

Vieles von dem, was Menschen tun, tun sie aus Angst. Und ja, die Rechte kann davon profitieren.

Kommentare