Der Medizinhistoriker Herwig Czech hat „Bauchweh, Seuchen positiv zu sehen, denn wir reden von Tod, Verzweiflung, Zusammenbrüchen. Pandemien sind immer tiefgehende Krisen, die bestehende Tendenzen beschleunigen und verstärken können. Fest steht aber auch, dass medizinischer und technischer Fortschritt stimuliert werden kann“, sagt er. In Folge der Cholera wurden die Städte saniert, es war die Entdeckung der Hygiene.
„Sobald man verstanden hatte, wie sich der Erreger ausbreitet – Stichwort Trinkwasserversorgung –, konnte man etwas tun.“ Beispielsweise hänge die Wiener Hochquellleitung eng mit der Cholera-Bekämpfung zusammen. „Und wurde von der liberalen Stadtverwaltung Karl Luegers umgesetzt“, ergänzt der Historiker Wolfgang Maderthaner.
Er erinnert an das Katastrophenjahr 1873: „Weltausstellung in Wien, plötzlich gibt es eine Spekulationskrise, alles bricht zusammen. Und dann noch ein Cholera-Ausbruch. Gefolgt von einer ganz interessanten Entwicklung: Wien beginnt mit dem Bau moderner Spitäler.“ Maderthaner sieht einen ursächlichen Zusammenhang. Draußen in der Vorstadt entstand mit dem Kaiser-Franz-Josef-Spital das erste wirklich moderne Spital mit Ebenen. „Man kann nicht behaupten, dass das eine das andere bedingt, aber die zeitliche Nähe ist schon sehr auffallend“, grübelt er.
Einige Jahrzehnte später hat die Spanische Grippe die Menschheit fest im Griff. Folge: Der Aufbruch in die moderne Medizin. „Was noch bedeutender ist – es ist der Aufbruch in die moderne Sozialpolitik“, sagt Maderthaner. „Vor allem das Rote Wien reagierte auf die Zig-Tausenden Toten. In Wien oder London kam dann noch die Tuberkulose dazu und als Folge des Weltkrieges eine massive Zunahme der Geschlechtskrankheiten. Und das kulminiert in den Maßnahmen von Julius Tandler.“
Maderthaner erinnert: „Wien verlor 1918 bis 1920 130.000 Einwohner, die Kindersterblichkeit stieg dramatisch, gleichzeitig kamen auch viel weniger Kinder zur Welt. Für jeden Politiker ein massives Problem: Die Stadtbevölkerung stirbt aus. Wir brauchen eine Intervention.“ Tandler, Mediziner und Stadtrat, setzte voll auf Prophylaxe. Der Historiker: „Akutversorgung ja, aber es braucht mehr – moderne, saubere Wohnungen, die nicht überfüllt waren; in den neuen Wohnkomplexen gab es Tbc-Stationen, Ambulatorien, Eheberatungsstellen, um die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten in den Griff zu bekommen“. Schwimmbäder, Sportanlagen und Kurheime wie das auf der Baumgartner Höhe komplettierten das Paket. „Und das zeitigte binnen weniger Jahre sensationelle Ergebnisse“, meint der Historiker.
Dann blickt er noch ein paar Jahrhunderte zurück: „Das Los der leibeigenen Bauern war nach den großen Pandemien des Mittelalters und der Neuzeit für ein bis zwei Generationen viel besser“, weiß er. „Einfach, weil es einen Arbeitskräftemangel gegeben hat.“
Ende des Feudalismus?
Manch ein Historiker propagiert sogar, dass die Pest das Ende des Feudalismus eingeläutet habe. Czech: „Es war sicher ein brutaler demografischer Einschnitt – dem Feudalismus sind die Untertanen weggestorben, Siedlungen wurden aufgegeben, die Leute sind den Grundherrn davongelaufen. Jene Menschen, die übrig geblieben sind, waren als Arbeitskräfte sehr gefragt.“ Aber den Schluss abzuleiten, dass wir dank der Pest in die Neuzeit katapultiert worden wären, geht dem Medizinhistoriker zu weit.
Strafe Gottes und der Buchdruck
Arno Strohmeyer, Historiker an der Universität Salzburg und Experte für gesellschaftliche Umbrüche, wiederum hält es für möglich, dass der schwarze Tod ein Baustein für die Reformation gewesen sein könnte. „Die Krankheit wurde von der Kirche als Strafe Gottes abgetan. Die Leute haben aber vielfach nicht verstanden, was sie verbrochen haben. Die Kirche half nicht, was zum Autoritätsverlust geführt hat. Und das könnte dazu beigetragen haben, dass man die Geistlichkeit verstärkt infrage gestellt hat“, argumentiert er.
Der schwarze Tod, diese extreme Pestwelle, die Europa in der Mitte des 14. Jahrhunderts im Griff hatte und bis zu 40 Millionen Menschenleben forderte, hatte weitere Folgen, glaubt Strohmeyer: „Die Lohnkosten stiegen, damit wurde auch die Arbeit von Schreibern und das Herstellen von Büchern teurer. Der Druck stieg, neue Techniken zu entwickeln. Das könnte die Erfindung des Buchdrucks befördert haben“, sagt er. „Und der Buchdruck war ein wichtiger Motor für die Reformation. Wenn die Thesen von Luther nicht gedruckt worden wären, hätten sich die Ideen nicht verbreitet.“
Was wir lernen können?
Womit wir bei jener Frage sind, die viele Menschen derzeit umtreibt: Was aus der aktuellen Pandemie lernen? „Geschichte kann Orientierungswissen zur Verfügung stellen und helfen, aktuelle Probleme besser zu verstehen“, sagt Strohmeyer. Medizinhistoriker Czech ergänzt: „Seuchen sind oft große Beschleuniger gesellschaftlicher Entwicklungen.“
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