Wenn Kinder töten: Werden junge Menschen immer brutaler?
Kinder, die Kinder töten: Dass in Deutschland so kurz hintereinander zwei Mädchen von Gleichaltrigen umgebracht wurden, schockiert: In Freudenberg wurde die zwölfjährige Luise von zwei Mädchen erstochen. Und in einem Kinderheim in Wunsiedel wurde ein zehnjähriges Mädchen getötet – auch hier könnten Strafunmündige die Täter sein.
Schnell entsteht da der Eindruck: Kinder werden immer früher gewalttätig und kriminell. Doch, stimmt das?
"Nein", sagt Hedwig Wölfl, Psychologin bei der Kinderschutzorganisation die Möwe: "Das sind Einzelfälle", betont sie und verweist auf zig Studien und Statistiken, die belegen, dass die Gewalt unter Kindern und an Kindern von Generation zu Generation zurückgeht. "Man darf die heutige Jugend auf keinen Fall katastrophisieren."
Psychiater: Kinder sind keine unschuldigen Wesen
Geändert habe sich die Perspektive. "Früher hat man Gewalt als Risiko des Lebens bewertet." Heißt: Sie war Teil des Alltags. Heute ist das anders: "Es wird mehr hingeschaut, was ja an sich gut ist, weil man den Fokus stärker auf die Probleme legt."
Kinder sind nicht von sich aus gänzlich unschuldige Wesen, wie mancher glauben mag. "Das mag in unserem Kopf so sein, widerspricht aber der Realität", sagt der forensische Psychiater Patrick Frottier.
Auch Kinder seien fähig zu Aggressionsdelikten, die Gründe dafür vielschichtig: Möglich sei, dass Kinder aufgrund kognitiver Einschränkungen die Folgen ihres Handelns nicht abschätzen können. Auch schwersttraumatisierte Kinder können in Zustände geraten, in denen sie extreme Angst bekommen und infolge mit Aggression und Angriff reagieren.
Gewaltbereitschaft kann in Persönlichkeit verankert sein
Gewaltbereitschaft kann auch in einer impulsiv gepolten Persönlichkeit verankert sein. "Und dann gibt es solche, die eine Veranlagung zur Kaltschnäuzigkeit haben. Werden sie von ihrem Umfeld vernachlässigt, kann das in emotionale Kälte und empathieloses Handeln münden."
Meist wissen Kinder aber schon sehr früh, was richtig und falsch, was gut und was böse ist, sagt Wölfl: "Wir alle lernen Normen, indem wir ständig im sozialen Austausch miteinander sind." Auch über Märchen, Mythen oder Filme lernen Kinder früh gesellschaftliche Grundprinzipien: "Kennen sie die Regeln, fordern sie dann auch vehement ein, dass diese eingehalten werden."
Das Verständnis für Recht und Unrecht entwickelt sich bei Kindern fließend, sagt Frottier. "Ein Vierjähriger weiß schon, dass es falsch ist zu lügen und zu täuschen. Aber er weiß zum Beispiel nicht, dass man andere nicht schlagen darf." Etwa ab dem achten Lebensjahr wissen Kinder, was absichtliche Körperverletzung bedeutet, ab dem zehnten kennen sie auch den Unterschied zwischen absichtlichem und unabsichtlichem Hinhauen.
Eltern sind wichtige Richtschnur für Kinder
Wichtige Richtschnur für Kinder sind die Eltern – im Positiven wie im Negativen. Sobald sie in die Phase der Adoleszenz kommen, in der sie sich von der Familie lösen, wenden sich Kinder Gleichaltrigen zu und übernehmen zum Teil ihre Normen, heißt: es gelten die Spielregeln, die die Freunde aufstellen.
"Man kennt das vom Mobbing: Da werden Menschen zu Mittätern, weil sie Teil einer Gruppe sein wollen oder weil man ihnen befiehlt, eine Tat zu begehen und ihre Aggression auszuleben. Man muss schon eine klare Haltung haben. Und es braucht Mut, um da nicht mitzumachen."
Kriminalprävention
Zur Förderung des Rechtsbewusstseins und eines positiven Miteinanders gibt es österreichweite Präventionsprogramme für Jugendliche. Das Schulprogramm "All Right – Alles was Recht ist!" klärt Mädchen und Burschen beispielsweise über verschiedene gesetzliche Bestimmungen auf, die ihren Alltag und ihre Lebenswelten betreffen. Das Gewaltpräventionsprogramm "Click & Check" befasst sich mit der Förderung eines verantwortungsvollen Umganges mit digitalen Medien.
Anlaufstellen
Die Beratungshotline "Rat auf Draht" ist unter der Rufnummer 147 rund um die Uhr, anonym und kostenlos für Kinder und Jugendliche erreichbar (rataufdraht.at). Die MA 11 bietet in Wien psychosoziale/rechtliche Beratung für Eltern an (01 4000-8011). Österreichweit organisieren Diözesen oder Caritas Unterstützung für Familien in Krisen (familienberatung.gv.at). Die Österreichischen Kinderschutzzentren bieten Kindern und ihren Bezugspersonen Hilfe bei Gewalterfahrungen (oe-kinderschutzzentren.at).
Die reale und digitale Welt sind eins
Um andere zu demütigen, braucht es heute nicht einmal den Schulhof: "Für junge Menschen sind die reale und die digitale Welt eines", erläutert Wölfl. Happy slapping ("fröhliches Schlagen") nennt sich etwa das Phänomen, wenn einige auf ein Opfer eintreten, das filmen und über soziale Medien verbreiten. "Da wird dann Gewalt zur Normalität."
Oft gibt es in den sozialen Medien auch Internettrends, die bei Jungen cool werden: "Das beginnt mit so harmlosen Dingen wie der Ice Bucket Challenge und geht bishin zu sadistischen Praktiken. Wir kennen solche Nachahmungseffekte schon, seit Goethe den Werther geschrieben hat."
Neue Medien seien laut Frottier aber per se keine Ursache für Gewalthandlungen: "Sie können aber als Verstärker wirken."
Was passiert, wenn Kinder Gewalt erfahren
Haben Kinder dann noch selbst Gewalt erfahren, beginne sich die Spirale zu drehen. "Denn das beeinflusst die Konfliktbewältigungsstrategie der Kinder. Hier ist Erziehungsarbeit gefragt: Welche Reaktionen werden toleriert? Welche nicht? Da sind die roten Linien, die nicht überschritten werden dürfen, wichtig", sagt Wölfl.
Werden Kinder gewalttätig, sei aber noch nicht aller Tage Abend, sagt Frottier: "Die Chance für sehr junge gewaltbereite Menschen, zurück ins Leben zu finden steigt, je früher Hilfe angeboten wird – nicht im Sinne von Strafe, sondern von therapeutischer Unterstützung."
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