Zierer: "Wenn ich Schulen wie Spitäler führe, ist die Freude schnell dahin"

Zierer: "Wenn ich Schulen wie Spitäler führe, ist die Freude schnell dahin"
Bildungswissenschafter Klaus Zierer über die Folgen der Pandemie für die Schulen und wir jetzt eine Bildungskatastrophe verhindern.
Klaus Zierer ist Lehrer, dreifacher Vater und Bildungswissenschafter. Bekannt wurde er, weil er über und mit John Hattie geforscht hat, der 2009 mit seiner Metastudie über erfolgreiche Schulsysteme weltweit für Aufsehen sorgte. Jetzt hat er ein Buch über die Pandemie und die Folgen für die Schulen geschrieben: "Ein Jahr zum Vergessen. Wie wir die Bildungskatastrophe verhindern." Was jetzt in den Schulen Not tut, erläutert er im KURIER-Gespräch. 
KURIER: Welche Lehren haben Sie aus den vergangenen zwei Jahren gezogen?
Klaus Zierer: Wir haben gesehen, was die Kinder motiviert, in die Schule zu gehen:  Es war nicht der Unterricht, sondern die Gemeinschaft, die Gleichaltrigen. Alleine vor dem Rechner zu lernen, ist doch eine Katastrophe. Ich kenne keinen Hollywoodfilm, der mich für vier Stunden am Bildschirm fesselt. Wie soll eine Lehrerin das schaffen? Man sieht jetzt, dass  Bildung  ein sozialer Prozess ist,  und die Gleichaltrigen der wichtigste Motor des Lernen sind. Wenn der weg bricht, bricht alles weg: Wir müssen die Kinder wieder zusammenführen. Wenn wir  einmal verstanden haben, wie wichtig das Soziale ist und das ins Zentrum von Unterricht holen, kann es uns gelingen, selbst das langweiligste Fach spannend zu machen, eben weil wir gemeinsam uns etwas anschauen.
 
Es ist also einiges schief gelaufen?
Ja, leider haben wir in der Pandemie die Bildung  überhaupt  nicht  in den Blick genommen – wohl wissend, dass sie entscheidend für  die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft und  die  Wirtschaftskraft   eines Landes ist. Man hätte die Chance nutzen können und sagen: Lasst und die Lehrpläne neu denken, Lerninhalte rausnehmen, die nicht wichtig sind, und alles  neu gewichten.
 
Was bedeutet für Sie, Schule neu denken?
Wir reduzieren Bildung auf das Kognitive und vergessen, dass das Psychosoziale immer mitspielt. Ein Fehler. Wir sollten uns fragen: Wie können wir es schaffen, dass Kinder Räume und Zeiten für ihre psychosoziale Entwicklung haben? Wie können wir ihre körperliche Verfassung stärken?  Da muss ich in verschiedenen Richtungen denken: Die Lehrpläne überarbeiten und  die  musischen Fächer nach vorne bringen – und  Projektarbeit sowie erlebnispädagogische Maßnahmen ganz nach vorne rücken. Sobald  es die  Corona-Zahlen zugelassen haben, hätte man die   Schüler auf Klassenfahrten schicken müssen. Die Kinder  müssen raus in die Natur und gemeinsam etwas erleben.  Stattdessen haben wir sie hinter die Schulbänke gequetscht und noch mehr Mathematik, Deutsch, Englisch gemacht.
 
Da gibt es viele Baustellen. Was würden Sie tun, wenn Sie Bildungsminister wären?
Zwei Punkte: Ich würde  zuerst einen  Bildungsrat einberufen, in dem nicht nur  die  Wissenschaft  vertreten ist, sondern  auch  Eltern,  Lehrpersonen, Jugendliche,   Schulleitungen und die  Bildungsverwaltung. Die Personen  setzen sich  regelmäßig zusammen und überlegen, wie es ums Schulsystem steht.    Die vielfältigen Perspektiven sind wichtig, wie ich aus eigener Erfahrung  weiß – ich bin nicht nur Wissenschafter und Lehrer, sondern auch dreifacher Vater.
 
Und der zweite Punkt?
Aus unseren Studien wissen wir, wie zentral die Lehrperson für ein Schulsystem ist. Deshalb   schlage ich  eine  Koalition der besten Lehrpersonen des Landes vor.   An die könnte der Bildungsrat Fragen stellen und von ihnen Leitsätze  entwickeln lassen, etwa wie guter Distanzunterricht  funktioniert.  Diese Lehrer  könnten – unterstützt von Universitäten –  auch evaluieren, was in der Krise gut und schlecht lief. Derzeit haben wir  nur halbseidene Leistungserhebungen, aber tiefer gehende Fragen wurden nicht beantwortet, etwa:  Was hat an Kommunikation stattgefunden, wie gut funktioniert die Digitalisierung,  wie geht es  migrantischen Kindern, was ist mit der Inklusion passiert?
 
Wie soll die Arbeit dieser Lehrerkoalition  aussehen?
Sie sollte Netzwerke bilden und eine  gemeinsame Schulentwicklung in einer Region anregen, sodass ein Austausch über die Schulen hinweg stattfindet. Das führt dazu, dass nicht das Glück entscheidet, ob ein Kind in  eine gute Schule geht oder nicht.   Das wäre ein wesentlicher Unterschied zur jetzigen Situation. Da läuft Schulentwicklung  im Kern so, dass ein Kollege sich für etwas interessiert,  eine Fortbildung  macht, und man schaut, was passiert.
 

Da braucht es die Unterstützung der Direktionen – hier spielt die Parteipolitik  eine große Rolle. Auf der anderen Seite wollen immer weniger diese  Aufgabe übernehmen.

Das ist ein generelles Problem in der Bildungspolitik:   Sie wird meistens als Parteipolitik gesehen und nicht zum Wohle der Kinder. Sobald die Farbe im Ministerium wechselt, wird alles bei Seite geschoben,  was der andere gemacht hat,   auch wenn es gut war.  Ein Beispiel wie man es anders machen kann, ist das deutsche Bundesland Mecklenburg-Vorpommer, wo einst der  Bildungsminister einen zehnjährigen Schulfrieden ausgerufen hat:  Man wird die nächsten zehn Jahre nicht über das System diskutieren  und stattdessen versuchen, die Qualität nach vorne zu bringen. Ein richtiger Ansatz. Die Parteipolitik muss raus aus der Schule, es geht um die Bildung der Kinder. 

Um die Lerndefizite auszugleichen, schlagen Sie Sommerschulen vor.  Wie müssten die aussehen, dass sie allen Kindern etwas bringen?
Sommerschulen  sind besonders gut erforscht,  weil es die in  den USA  schon lange gibt. Ein zentrales Ergebnis der Forschung ist: Sommerschulen dürfen KEINE Verlängerung der normalen Schulzeit sein, wo man  die kognitive Lernleistung in den Mittelpunkt stellt.  Man muss vielmehr das Miteinander und die körperliche Verfassung der Kinder  in den Blick nehmen. Phasen des Lernens, des Sports  und der Gemeinschaft sollten rhythmisiert werden. Gleichzeitig muss vieles auf den einzelnen Schüler  fokussiert sein.
 
Die viel  gepriesene Individualisierung.
Ja, damit diese erfolgreich ist,  brauchen wir klare Diagnosen für jedes Kind. Wo sind seine Stärken und Schwächen? Wenn wir das wissen, können wir intensiv  auf jeden Schüler eingehen.  Bei uns in Augsburg haben wir digitale Diagnosetools  entwickelt, die Defizite im Wissen, in der psychischen und der körperlichen Entwicklung  identifizieren. Auf dieser Basis wird dann  in  Kleingruppen  mit vier bis fünf Kindern gelernt. 
 
Warum in  Kleingruppen? Es heißt doch immer, es gebe keinen Zusammenhang zwischen Klassengröße und Schulerfolg.
Die Reduzierung der Klassen macht im Regelbetrieb meist keinen großen Effekt, weil  die Lehrpersonen genau so unterrichtet wie zuvor.  Wenn wir aber gleichzeitig der Lehrperson klar machen, wie sie in der Kleingruppe  didaktisch und methodisch anders arbeiten kann,  kann das den Unterricht verändern.
 
Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg ist es, dass die Lernfreude bei den Kindern entfacht wird. Kann das eine Lehrkraft leisten?
Es gibt sicherlich hinderliche und förderliche Umstände. Eine Reihe von Situationen nimmt  aktuell diese Freude. Wenn  ich  im kognitiven Bereich nur mit Druck arbeite und gleichzeitig den   musischen und sozialen Bereich coronabedingt ausklammere, wenn ich Schulen wie Spitäler führe und nicht  als pädagogische Lebensräume, dann ist die Freude schnell dahin.
 
Dennoch kann ein Pädagoge die Lernfreude fördern.
Ja, wir kennen die fünf Punkte im Kontext der Freude: Der erste  ist der Bereich der Gefühle: Wir müssen die  Schule auch  als emotionalen Raum sehen. Eines der  fragwürdigsten Erlebnisse in der Pandemie war, dass  keines meiner drei Kinder je  gefragt wurde, wie es ihnen geht.  Die kommen nach dem Lockdown zurück und das erste, was sie hören: Nächste Woche ist Schularbeit.
Mit dem Gefühl verbunden ist der zweite Punkte: den Kindern aufzeigen, warum sie bestimmte Sachen können müssen. Wenn das Kind darauf keine Antwort hat, ist das Bulimielernen. Diese Bedeutung  aufzuzeigen, ist ganz wichtig. Das gehört zur Professionalität  des Lehrberufs.
 
Blieben noch drei Punkte.
Ja,  Gestaltung und Gelingen: Dass Schule im  Modus der Passivität ist,  hat in Pandemiezeiten zugenommen – die Schülerinnen und Schüler hören zu, was die Lehrperson sagt. Wenn wir  es  schaffen, die Kinder ins  Miteinander und in die Aktivität zu bringen,  erzeugt das positive  Emotionen.    Und das ist der fünfte Punkt, über den wir schon gesprochen haben: Gemeinschaft. Bildung ist ein sozialer Prozess und Freude vermehrt sich, wenn man sie teilt. Konkret müssen wir gerade nach der Pandemie zusehen, das wir Feste und Feiern wieder in die Schulen bringen. 
 
Zierer: "Wenn ich Schulen wie Spitäler führe, ist die Freude schnell dahin"

Klaus Zierer

die Unterstützung der Direktionen – hier spielt die Parteipolitik  eine große Rolle. Auf der anderen Seite wollen immer weniger diese  Aufgabe übernehmen.
Das ist ein generelles Problem in der Bildungspolitik:   Sie wird meistens als Parteipolitik gesehen und nicht zum Wohle der Kinder. Sobald die Farbe im Ministerium wechselt, wird alles bei Seite geschoben,  was der andere gemacht hat,   auch wenn es gut war.  Ein Beispiel wie man es anders machen kann, ist das deutsche Bundesland Mecklenburg-Vorpommer, wo einst der    Bildungsminister   einen zehnjährigen Schulfrieden ausgerufen hat:  Man wird die nächsten zehn Jahre nicht über das System diskutieren  und stattdessen versuchen, die Qualität nach vorne zu bringen.  Ein richtiger  Ansatz. Die Parteipolitik muss raus aus der Schule, es geht um die Bildung  der Kinder.
 
Um die Lerndefizite auszugleichen, schlagen Sie Sommerschulen vor.  Wie müssten die aussehen, dass sie allen Kindern etwas bringen?
Sommerschulen  sind besonders gut erforscht,  weil es die in  den USA  schon lange gibt. Ein zentrales Ergebnis der Forschung ist: Sommerschulen dürfen KEINE Verlängerung der normalen Schulzeit sein, wo man  die kognitive Lernleistung in den Mittelpunkt stellt.  Man muss vielmehr das Miteinander und die körperliche Verfassung der Kinder  in den Blick nehmen. Phasen des Lernens, des Sports  und der Gemeinschaft sollten rhythmisiert werden. Gleichzeitig muss vieles auf den einzelnen Schüler  fokussiert sein.
 
Die viel  gepriesene Individualisierung.
Ja, damit diese erfolgreich ist,  brauchen wir klare Diagnosen für jedes Kind. Wo sind seine Stärken und Schwächen? Wenn wir das wissen, können wir intensiv  auf jeden Schüler eingehen.  Bei uns in Augsburg haben wir digitale Diagnosetools  entwickelt, die Defizite im Wissen, in der psychischen und der körperlichen Entwicklung  identifizieren. Auf dieser Basis wird dann  in  Kleingruppen  mit vier bis fünf Kindern gelernt. 
 
Warum in  Kleingruppen? Es heißt doch immer, es gebe keinen Zusammenhang zwischen Klassengröße und Schulerfolg.
Die Reduzierung der Klassen macht im Regelbetrieb meist keinen großen Effekt, weil die Lehrpersonen genau so unterrichtet wie zuvor. Wenn wir aber gleichzeitig der Lehrperson klar machen, wie sie in der Kleingruppe didaktisch und methodisch anders arbeiten kann, kann das den Unterricht verändern.
 
Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg ist es, dass die Lernfreude bei den Kindern entfacht wird. Kann das eine Lehrkraft leisten?
Es gibt sicherlich hinderliche und förderliche Umstände. Eine Reihe von Situationen nimmt  aktuell diese Freude. Wenn  ich  im kognitiven Bereich nur mit Druck arbeite und gleichzeitig den   musischen und sozialen Bereich coronabedingt ausklammere, wenn ich Schulen wie Spitäler führe und nicht  als pädagogische Lebensräume, dann ist die Freude schnell dahin.
 
Dennoch kann ein Pädagoge die Lernfreude fördern.
Ja, wir kennen die fünf Punkte im Kontext der Freude: Der erste  ist der Bereich der Gefühle: Wir müssen die  Schule auch  als emotionalen Raum sehen. Eines der  fragwürdigsten Erlebnisse in der Pandemie war, dass  keines meiner drei Kinder je  gefragt wurde, wie es ihnen geht.  Die kommen nach dem Lockdown zurück und das erste, was sie hören: Nächste Woche ist Schularbeit.
Mit dem Gefühl verbunden ist der zweite Punkte: den Kindern aufzeigen, warum sie bestimmte Sachen können müssen. Wenn das Kind darauf keine Antwort hat, ist das Bulimielernen. Diese Bedeutung  aufzuzeigen, ist ganz wichtig. Das gehört zur Professionalität  des Lehrberufs.
 
Blieben noch drei Punkte.
Ja,  Gestaltung und Gelingen: Dass Schule im  Modus der Passivität ist,  hat in Pandemiezeiten zugenommen – die Schülerinnen und Schüler hören zu, was die Lehrperson sagt. Wenn wir  es  schaffen, die Kinder ins  Miteinander und in die Aktivität zu bringen,  erzeugt das positive  Emotionen.    Und das ist der fünfte Punkt, über den wir schon gesprochen haben: Gemeinschaft. Bildung ist ein sozialer Prozess und Freude vermehrt sich, wenn man sie teilt. Konkret müssen wir gerade nach der Pandemie zusehen, Feste und Feiern wieder in die Schulen zu bringen. 

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