Bildungsforscher: Was wir den Kindern antun, ist fast kriminell
Eine niederländische Studie sorgte vor wenigen Tagen für Aufsehen – in der Pandemie sei der Lernfortschritt, vor allem bei sozial benachteiligten Schülern, „fast null“. In Österreich warnen Ärzte vor zuviel Stress für die Kinder im Schulbetrieb. Auch Bildungsforscher Stefan Hopmann von der Uni Wien kritisiert, dass Politik und Schulsystem das Wohl der Kinder zu wenig im Fokus haben.
KURIER: Sie erforschen die Bildung seit vielen Jahrzehnten. Das Schulsystem in einer Pandemie war aber auch für Sie neu. Was sind die Lehren?
Stefan Hopmann: Die Pandemie ist ein Naturereignis, aber die Reaktion der Politik und des Schulsystems ist keines. Ich stelle ein großes Unvermögen fest, damit angemessen umzugehen. Dieses Unvermögen könnte für Kinder und Jugendlichen nachhaltigere Folgen haben als die Pandemie selbst – das wäre aber vermeidbar.
Was meinen Sie damit?
Die Fiktion, einen regulären Schulbetrieb aufrechterhalten zu können, ist nicht akzeptabel und für mich geradezu kriminell. Die Politik ist nicht in der Lage, eine minimale Erwartungssicherheit zu gewährleisten. Doch ohne sie funktioniert Schule nicht. Das gelingt anderen Ländern besser.
Aber wie schadet das?
Es gibt ja viele, die meinen, man könnte so tun, als ob die Schüler das Gleiche leisten und können müssen wie ohne Pandemie. Dann hagelt es schlechte Noten. Die Kinder werden haftbar gemacht für die Folgen einer Pandemie, die sie weder verantworten noch alleine bekämpfen können. Wenn man
in der Schule nicht lernen kann, was man für die Schule braucht, dann kann man nicht die Kinder durch Noten dafür haftbar machen. Was da an Lernselbstvertrauen und Lernfähigkeit zerstört wird, ist langfristig viel schlimmer als das Virus. Ist das akademische Selbstvertrauen nämlich einmal beschädigt, hat das langfristig Folgen für die Lernkarriere. Das erleben wir derzeit massenhaft.
Wo sehen Sie da die Fehler?
Das liegt auch am Ministerium, das den Schulen nicht von vornherein gesagt hat: Leute, vergesst nicht, unter diesen Bedingungen kann man das nicht. Das Ministerium ist Weltmeister in widersprüchlichen Botschaften: Einerseits sollen wir die Frage der Leistungen nicht so ernst nehmen, andererseits kommt es doch auf die Schularbeiten an. Wir zwingen alle dazu, Normalität zu simulieren, anstatt anzuerkennen, dass die Jugend in der schwersten Krise der Zweiten Republik aufwächst. Das ist pädagogisches und politisches Versagen. Die ständige Versicherung von Bildungsminister Heinz Faßmann, es ginge doch eh gut, entspricht nicht der Praxis – und nicht der Erfahrung der Schüler und Eltern.
Wie müsste die Politik auf die Situation jetzt reagieren?
Drei Punkte: Erstens müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir alles wie gewohnt machen können. Wir schaffen nicht, was im Lehrplan steht, geschweige denn in den gesetzten Fristen – deswegen lassen wir die zentralen Prüfungen aus. Zweitens wissen wir, dass solche Krisen Kinder ohne außerschulische Ressourcen härter trifft als die, die die Ressourcen haben – da geht es nicht um Laptops. Auf die müssen wir uns konzentrieren. Und drittens muss man verstehen, dass Schule nicht primär die Menge an Wissen ist, die dort vermitteln wird. Darauf kommt es nachweislich nicht an.
Sondern?
Schule ist in erster Linie gemeinsame Verständigung über Sachverhalte. Schule ist soziales, nicht individuelles Lernen. Es geht nicht darum, einzelne Vokabeln oder Formeln zu wissen, sondern Modi des Weltverstehens. Die sind abhängig von der Verständigung mit anderen. Wir bräuchten eine Schulreform, damit genau das passieren kann: Jeden Standort individuell anschauen und uns fragen, was dort passieren muss, damit das möglich wird.
Also mehr Autonomie?
Genau. Auch wenn Autonomie kein Garant für Schulerfolg ist, denn nicht alle sind gleich talentiert, und alle haben unterschiedliche Bedürfnisse. Das ginge alles mit den vorhandenen Ressourcen, wenn man nur den Blödsinn aufgeben würde, zuviel für Fiktionen auszugeben. Man muss sich nur vorstellen, was der Unterricht alles leisten könnte, wenn wir das vorhandene Geld nicht in Sommerschulen und Nachhilfe, nicht in Kompetenzraster und Zentralmatura investieren würden. Das würde sicher viel Wirkung zeigen, man kann das aber nicht so gut plakatieren.
Zentralmatura oder Bildungsstandards wurden ja als Antwort auf Lerndefizite und PISA-Schock eingeführt.
Wenn man sich Lehrpläne und die Kompetenzen im Detail anschaut und denkt, das sei alles erforderlich, dann ahnt man, warum das nicht funktionieren kann. Dieses ganze Gerede von den Bildungslücken! Die Kinder haben im vergangenen Jahr weitaus mehr gelernt als irgendjemand zuvor, etwa sich selbstständig zu organisieren. Und dann komm’ ich angewackelt und sage: „Aber nur, wenn du, lieber Schüler, die Breite, die ich vorschreibe, hast, ist das gültig“? Da haben einige etwas vollkommen missverstanden: Die glauben, dass ihre abstrakten Kompetenzkonstruktionen, die nicht einmal wissenschaftlich belegbar sind, wichtiger sind als die realen Lernprozesse der Kinder. Das führt dazu, dass Lehrer guten Glaubens sind, testen zu müssen und stellen große Lücken fest. Das sind aber keine Lücken. Das ist der Preis dafür, dass der Einsatz und die Konzentration der Kinder gerade ganz wo anders liegt.
Der politische Wille für große Reformen scheint aber nicht vorhanden. Was wären die Folgen bis 2030 oder 2040?
Das sieht man bei den Ländern, wo das längst passiert ist. Dann wird es eine weitere Fragmentierung des Schulwesens geben, mehr soziale Segregation, mehr Konkurrenzkampf und viel mehr Privatschulen, die für viel Geld eine bessere Ausbildung anbieten. Und wir werden erleben – in Wien sieht man das jetzt schon –, dass die Familien dorthin ziehen, wo die Schulen besser sind, wo es weniger soziale Unterschiede gibt, damit die Kinder bessere Chancen haben. Das hat aber dramatische Folgen bis hin zur Demokratiefähigkeit. Denn dann gibt es keinen Ort mehr, an dem ich auf Menschen aus anderen Schichten und Lebenswelten treffen kann.
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