Warum sich viele Kinder mit dem Lesen schwer tun und wie man Abhilfe schafft
Die Zahlen bleiben seit Jahren gleich: Etwa jeder dritte Jugendlicher in der achten Schulstufe der Mittelschule schafft die Bildungsstandards im Lesen nur teilweise, ein weiteres Viertel nicht einmal ansatzweise. Woran liegt das? Und was kann man tun? Eine Leseförderung hat jeden Fall eine traumhaft hohe Rendite für die Steuerzahler - wie hoch die ist, verraten Lydia Grünzweig und Michaela König vom österreichischen Buchklub der Jugend im Interview. Und sie sagen, wie man die größte Risikogruppe, migrantische Jugendliche, motiviert, ein Buch in die Hand zu nehmen.
KURIER: Was kann man darunter verstehen, dass ein Kind nicht sinnerfassend lesen kann?
Michaela König: Also ganz so dramatisch, wie es klingt, sehe ich es nicht. Natürlich gibt es die sekundären und tertiären Analphabeten, die zwar Lesen gelernt, aber es nicht geübt haben. Sie vergessen das Erlernte wieder, weil sie es im Alltag nicht brauchen oder weil sie es bewusst vermeiden. Stattdessen entwickeln sie Strategien, wie sie gut durchs Leben kommen. Sinnerfassend lesen können bedeutet, dass man das, was man liest, versteht. Das ist die höchste Stufe beim Lesenlernen. Das heißt auch, dass man in der Lage ist, das Gelesene mit eigenem Wissen und Vorinformationen zu den Themen zu verknüpfen.
Dennoch kann man erwarten, dass jemand nach acht Jahren Schule lesen kann.
König: Man kann nicht alle Mittelschulen über einen Kamm scheren, die Probleme häufen sich in den Ballungszentren. Die Jugendlichen können grundsätzlich lesen, aber eben in differenziertem Ausmaß. Die wenigsten haben unüberwindbare Schwierigkeiten. Sie können Sätze lesen, aber keine langen Texte verstehen. Der Anteil an schwachen Leserinnen und Lesern ist übrigens seit Jahrzehnten ziemlich gleich geblieben.
Als klinische Psychologin und Pädagogin wissen Sie, wie Lernen funktioniert. Warum machen wir seit Jahrzehnten keine Fortschritte?
König: Ich würde die Frage gerne umkehren: Was läuft alles richtig? Da ist in den vergangenen Jahren einiges geschehen, indem etwa standardisierte Testungen eingeführt wurden. Das geht in die richtige Richtung. Man hat ein System geschaffen, in der sich niemand mehr vor Tests fürchten muss – Lehrpersonen haben keine Angst mehr, dass ihre Arbeit bewertet wird, Kinder keine Angst, aufgrund ihrer Leistungen diskriminiert zu werden. Aber – das ist das Positive an den Tests: Die Lehrenden bekommen jetzt Tools an die Hand, mit denen sie arbeiten können, wenn ein Kind schwach ist. Sie werden mit ihrem Gefühl nicht allein gelassen, dass da etwas nicht stimmt, dass sich ein Kind schwer tut, sondern sie haben mit den Testergebnissen Beweise dafür. Sie können einerseits die Eltern damit sensibilisieren und andererseits auch nach Förderangeboten suchen. Vor allem in der Prävention und Lesemotivation sehe ich auch ganz stark die Rolle des Buchklubs, dass wir Pädagoginnen und Pädagogen bei der Leseerziehung unterstützen und Materialien liefern, die eins zu eins im Unterricht eingesetzt werden können. Mit unserem Angebot holen wir das Lesen immer wieder vor den Vorhang und sehen uns als Promotor für Kinder- und Jugendliteratur.
Lehrpersonen beklagen, dass die Kinder bei Schuleintritt nicht die Voraussetzungen haben, die man fürs Lesen braucht. Sie verstehen einfachste Wörter nicht.
Lydia Grünzweig: Deswegen fängt Leseförderung idealerweise schon mit der Geburt an. Lesen lernt man in der Schule, aber die Vorarbeit findet idealerweise in der Familie statt. Ist es dort nicht möglich, dann soll es woanders passieren, etwa in Kindergärten und Bibliotheken – Leseförderung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Derzeit kommen Kinder in die Schule, die einen Unterschied in der Entwicklung von bis zu vier Jahren haben. Das muss dann aufgeholt werden und ist für Lehrpersonen eine große Herausforderung.
König: Wir wissen, dass gerade jene, die den Kindergarten am ehesten bräuchten, ihn am wenigsten in Anspruch nehmen. Dort bekommen Kinder nämlich Kontakt zu Büchern und zur Literatur, denn die Schriftsprache, die man in der Schule braucht, funktioniert anders als das gesprochene Wort. Übers Lesen kommen Kinder zu einem größeren Wortschatz, einem Weltwissen und zur Fähigkeit, dies mit dem realen Leben zu verbinden. Deshalb sollten alle Kinder schon früh die Möglichkeit bekommen, in einer elementaren Bildungseinrichtung von Pädagoginnen und vor allem von Gleichaltrigen zu lernen.
Wie funktioniert es überhaupt, dass man lesen lernt?
König: Das passiert auf drei Ebenen, die parallel entstehen. Beim kognitiven Prozess lernt man, dass Buchstaben einem Laut zugeordnet werden, mehrere Wörter einen Satz ergeben usw. Dann gibt es die Subjektebene: „Bin ich eine Leserin, ein Leser?“ Empfindet sich das Kind also als jemand, der Bücher mag und liest? Wurde es schon mit Büchern konfrontiert, weil ihm jemand vorgelesen hat? Falls nicht, ist ihm nicht klar, wozu es das Lesen überhaupt lernen soll, was der Zweck dazu ist, und es wird sich dementsprechend in der Schule nicht wahnsinnig für das Lesenlernen engagieren. Auch die soziale Ebene ist wichtig. Kinder wollen über das Gelesene reden. Sobald der Bub oder das Mädchen in sein Zimmer geschickt wird, um alleine zu lesen, ist das motivatorisch schwierig – Lesen bekommt eventuell dabei den Beigeschmack der Strafe. Das Sprechen über das Gelesene ist eben auch eine Voraussetzung fürs Lesenlernen –passiert das nicht in der Familie, sollte es in der Schule geschehen, muss die Schule dieses Defizit ausgleichen, um dem Leselernprozess voranzutreiben.
Haben die Lehrkräfte das nötige Rüstzeug hierfür?
König: Ja, aber sie haben in einer Halbtagsschulform oft die Zeit nicht. Hier wäre das Modell der Ganztagsschule zu bevorzugen, wobei die Qualität eines Unterrichts – egal in welcher Form – immer mit den handelnden Personen steht und fällt.
Buben mit Migrationshintergrund sind die größte Risikogruppe. Welche Maßnahmen müsste man hier setzen?
König: Frauen lesen eher Belletristik, Männer eher Sachbücher, das ist ein Fakt. Deshalb gibt es am Markt verhältnismäßig mehr Bücher für Mädchen, weil die Verlage ihre Werke verkaufen wollen. Meist sind die Protagonisten weiblich, was für Burschen ebenfalls nur mäßig spannend ist. Deshalb kann man Burschen eher über das Sachbuch oder auch Graphic Novels motivieren. Da sehe ich im Angebot durchaus noch Schärfungsmöglichkeiten. Vor allem aber sollten die angebotenen Bücher (gerade für nicht so begeisterte Leser) aktuell sein – es gibt wunderbare Neuerscheinungen, die die Lebensrealität der Kinder widerspiegeln, die sie mit Themen abholen, die sie treffen. Es kann, aber muss nicht immer Mira Lobe oder Michael Ende oder ein anderer Klassiker sein, der Burschen zum Lesen verleitet. Wenn Kinder generell Bücher selbst aussuchen dürfen und Literatur nicht vorgelegt bekommen, wenn sie die Gelegenheit erhalten, verschiedene Genres zu erkunden, dann werden sie auch Vorlieben finden.
Gibt es Programme für Kinder aus Elternhäusern, in denen es keine Bücher gibt?
Grünzweig: Die erste Anlaufstelle ist idealerweise die Bibliothek. Darüber hinaus gibt es viele Aktionen, um Kinder zum Lesen zu bringen, wie z.B. die Aktion „Lesegemeinde Trumau“ (NÖ) – ein Projekt, das das Buch und das Lesen in den Familien von Geburt an in den Fokus rücken. Zur Unterstützung erhalten die Familien Bücher schon von der Geburt an, und das bis zum Ende der Volksschulzeit. Begleitend zu den Büchern gibt es immer wieder Veranstaltungen für die Familien und in den Schulen, damit die Kinder zum Lesen motiviert werden. Eine Studie aus Großbritannien, zum „Bookstart-Projekt“, welches der oben genannten Initiative sehr ähnlich ist, zeigt, dass die Erträge dieses Lesefrühförderprogramms dessen Kosten weit übersteigen. Nämlich mit einer Rate von 1:25. Jeder Euro, der in Lesefrühförderung investiert wird, bringt gewissermaßen 25-fache Erträge und verhilft dazu, dass teure Nachschulungen und nachträgliche Leseförderprogramme vermieden werden.
Fehlt es Kindern heute an der nötigen Arbeitshaltung, schließlich ist es anstrengend, lesen zu lernen.
Unisono: Nein! In der Schule ist die Zeit oftmals zu kurz, damit das Kind dort das Lesen übt. Wenn Lesehausaufgaben ausgelagert werden, aber Eltern nicht unterstützen können, fehlt aber diese Übung. Doch ohne Übung geht es nicht. Deshalb sind zum Beispiel auch Lesepaten so wichtig, doch auch die fehlen schmerzlich aufgrund der Pandemie leider immer noch vielerorts.
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