Abkühlungstrend
Die Schlussfolgerung stammt aus einer Analyse dreier US-Datenbanken. Unter den begutachteten Daten befanden sich knapp 24.000 Messwerte, die zwischen 1862 und 1930 von Veteranen des Amerikanischen Bürgerkrieges erhoben wurden, mehr als 15.000 Aufzeichnungen einer nationalen Gesundheitserhebung aus den 1970-er-Jahren sowie über 150.000 Einträge aus einem Verzeichnis der Stanford University aus dem Zeitraum von 2007 bis 2017.
Historische Umbrüche in puncto Messgenauigkeit und Fieberthermometer-Qualität könnten den Effekt nicht erklären, schreibt das Team um Studienleiterin Julia Parsonnet im Fachblatt eLife. Denn die Ergebnisse waren auffallend schlüssig: Bei Männern, die während des 19. Jahrhunderts geboren wurden, lagen die Körpertemperaturen im Schnitt 0,59 Grad Celsius über jenen der heute lebenden Amerikaner. Für Frauen reichen die Daten nicht so weit zurück, aber auch bei ihnen konnte der Rückgang festgestellt werden.
Die Abkühlungstendenz offenbarte sich auch in den beiden jüngeren Datensätzen. Hier wurde die Temperatur bereits mit moderneren Thermometern gemessen.
Die Ursache für den Temperaturrückgang konnte mit den verfügbaren Daten nicht ermittelt werden. Die Forscherinnen und Forscher vermuten, dass der Mensch dank verbesserter hygienischer Bedingungen und medizinischer Versorgung heutzutage mit weniger Entzündungen zu kämpfen habe. Die Ergebnisse könnten sich also auch auf andere Länder mit fortschrittlichen Gesundheitssystemen übertragen lassen. Das konstante Raumklima, das durch Heizungs- und Kühlsysteme aufrechterhalten werden kann, könnte ebenso beigetragen haben.
Plausible Ergebnisse
Michael Fischer, Professor für Molekulare Physiologie an der Medizinischen Universität Wien, sieht in der Untersuchung eine "spannende, umfangreiche und valide Arbeit". "Und ich halte auch die Erklärungsansätze für plausibel. Etwa, dass die dramatische Abnahme bestimmter Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, die einen nennenswerten Einfluss auf die Körpertemperatur haben, für die Abkühlung verantwortlich sein könnte."
Auch das Argument, dass sich die vielerorts idealen Raumbedingungen auswirken, hält er für glaubhaft: "Jede Zelle unseres Körpers produziert mit jeder Tätigkeit Wärme. Da wir heutzutage eher selten Extremtemperaturen ausgesetzt sind, müssen wir immer weniger Wärme produzieren. Und kühlen womöglich tatsächlich, wenn auch sehr, sehr langsam, ab."
Das individuelle Wärmeempfinden des Menschen beeinflusse das nicht: "Wir sind in unserer Wahrnehmung der Umgebungstemperatur sehr anpassungsfähig. Der Organismus richtet sich in rund sieben Tagen nach veränderten klimatischen Bedingungen aus, fährt etwa die Schweißproduktion hoch. Grundlegende Veränderungen sind in den letzten hundert Jahren nicht anzunehmen."
Dass es sich bei den Erkenntnissen um aussagekräftige, evolutionsbiologische Veränderungen handelt, bezweifelt wiederum Andreas Rössler, Physiologe an der Medizinischen Universität Graz: "In knapp 170 Jahren tut sich in puncto Evolution gar nichts, dafür ist die Zeitspanne einfach zu kurz." Derartige Anpassungen würden viel eher Zehntausende Jahre dauern. Die erhobenen Abweichungen seien zudem äußerst gering: "Im Laufe eines Tages durchläuft der Mensch natürliche Temperatur-Schwankungen." Relevant wäre die Körperkerntemperatur, die erst seit einigen Jahrzehnten durch komplexe Messverfahren feststellbar sei.
Fieberwert bleibt fix
Dass der neu berechnete Mittelwert die medizinische Definition von Fieber ändern wird, glaubt Experte Fischer nicht: "In der Medizin definiert man Fieber ab 38 Grad Celsius, auf diesen Wert wird die Studie ziemlich sicher keinen Einfluss haben."
Studienleiterin Parsonnet zeigt sich jedenfalls überzeugt: "Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass wir heute mikrobiologisch andere Menschen sind als noch vor 150 Jahren." Dass dieses Postulat womöglich nur bedingt auf die Weltbevölkerung umzulegen ist, räumt die Medizinerin ein.
Dennoch: Der menschliche Abkühlungstrend lasse laut Studie keine Anzeichen eines baldigen Stillstandes erkennen.
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