Verschollene Briefe von Alois Hitler ermöglichen neuen Blick auf den Sohn
Mehr als 100 Jahre lagen 31 Schreiben vergessen auf einem Dachboden. Jetzt machen sie die erste Biografie über den Vater des Bösen möglich. Der Historiker Roman Sandgruber erzählt.
Erst war Roman Sandgruber sehr skeptisch. Zu oft schon hatte der Historiker „Sensationelles“ angeboten bekommen. Zu gut erinnerte er sich, wie das Nachrichtenmagazin Stern 1983 auf die gefälschten Hitler-Tagebücher hereingefallen war. Doch dann siegte die Neugier: „Ich konnte sofort erkennen, dass die Briefe echt sind. Das Bündel ist wohl nur ein einziges Mal geöffnet worden.“
Sandgruber waren nicht mehr und nicht weniger als 31 Briefe aus der Hand von Alois Hitler zugespielt worden – ja, dem Vater von Adolf.
Gut erhalten, mit Kuvert, Stempel und Briefmarken, lagen sie vor dem Historiker: „Alles da, was man von einer guten Quelle erwarten kann“, erzählt er. Abgefasst in akkuratem Kurrent, in gestelztem Beamtendeutsch, in das sich immer wieder Dialektwörter einschlichen. Gerichtet waren sie an den Straßenmeister Josef Radlegger, der dem Vater von Adolf Hitler 1895 das Rauschergut in Hafeld in Oberösterreich verkauft hatte.
Die Briefe sind die einzigen Autografen, die von Alois Hitler bekannt sind. „Ansonsten sind von ihm nur Geburts- und Sterbedaten geblieben. Alles andere, was man von Hitlers Vater weiß, kam von Arbeitskollegen und Zeitzeugen, die oft nicht wirklich glaubhaft sind. Teils stammen die Berichte aus dem Zweiten Weltkrieg, als Alois Hitler längst tot war.“ Kurz: Das wenige, was wir über den Mann zu wissen glauben, der den Werdegang des Massenmörders zweifellos stark beeinflusst hat, gehört ins Reich der Spekulation.
Über keine andere historische Persönlichkeit gibt es mehr Bücher als über Adolf Hitler. Sandgruber schätzt die Zahl der Buch- und Zeitschriftentitel auf 150.000. Sogar über seinen Chauffeur, seinen Chefastrologen, seinen Pressechef, seine Diätköchin und seine Hebamme gibt es Biografien. „Aber keine über Hitlers Vater“, sagt der Historiker und hat das jetzt geändert (Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde).
Pfeife rauchen, im Wirtshaus sitzen, Bienen züchten, drei Ehen, acht Kinder: Alois war kein angenehmer Mensch. Zu Hause ein Patriarch, im Dienst ein Pedant, in der Öffentlichkeit rechthaberisch, gegen die Kinder ein brutaler Despot – so beschreiben Zeitzeugen Adolfs Vater. Sandgruber bestätigt: „Alois war ein schwieriger Charakter. Er hatte aber auch kein einfaches Leben – als uneheliches Kind (geboren am 7. Juli 1837 in Strones Nr. 13), das sich mit einklassiger Volksschule nach oben kämpfte, wegen der fehlenden Matura aber bald anstand.“ Trotzdem hat er es bis zum Beamten gebracht.
Mürrisch und belesen
Sandgruber: „Die einen beschreiben ihn als Gesellschaftsmenschen, die anderen als mürrisch.“ Gleichzeitig war er extrem belesen. Um diese Widersprüche auszuloten, waren die neu entdeckten Briefe sehr wichtig. „Darin geht es um die Modalitäten beim Kauf des Rauscherguts – an der Oberfläche im Ton sehr höflich, aber im Inhalt sehr scharf.“ Der Historiker liest Dünkel aus den Zeilen. Alois hatte wohl Vorurteile gegen Dienstleute, aber auch gegen Handwerker und „Studierte“. „Denn er, der Autodidakt, hatte sich Wissen angelesen und kenne sich besser aus. Das kommt in den Briefen deutlich raus“, analysiert Sandgruber.
In den Zeilen spiegelt sich auch der Traum vom eigenen Bauernhof, einem, wie er ihn als Kind verlassen musste, sagt Hannes Leidinger. Der Historiker vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung konnte bereits einen Blick auf die Briefe werfen: „Sie sprechen von einer sehr bäuerlichen Welt, in der Alois Hitler sich als Gutsherr darstellt. Er hatte eindeutig Herren-Attitüden.“
Taffe Mutter
„Was man nach den Briefen allerdings gar nicht mehr aufrecht erhalten kann, ist das Bild von Klara Hitler als Hausmütterchen. Sie war eine sehr bestimmt wirtschaftende Frau, die gut mit Geld umgehen konnte, selbst Sparbücher hatte und ins Gasthaus ging, um sich ein Bier zu genehmigen“, sagt Sandgruber. „Da sind wir alle in der Hitler-Forschung auf den Zeitgeist des Nationalsozialismus hinein gefallen – ausgelöst durch Hitler selbst.“ Sandgruber spricht von Mosaiksteinchen, die man zusammentragen und einschätzen muss.
Erklärung für den Holocaust
Wer sich nun erwartet, dadurch den Holocaust erklären zu können, wird enttäuscht: „Das wäre naiv“, sagt Leidiger. Und Sandgruber ergänzt: „Der Anteil der Eltern am Holocaust war nicht so groß. Hitler erlebte die zeittypische Erziehung. Natürlich hat es Schläge gegeben. Natürlich war da der ständige Wohnungswechsel.“ Bis Adolf 18 ist, muss er 18 Mal übersiedeln – von Braunau, etwa nach Passau, Urfahr, Fischlham/Hafeld, Lambach, Leonding und schließlich Linz. Jeder Umzug bringt den Buben in ganz unterschiedliche Milieus.
„Mich hat Hitlers Umfeld in Oberösterreich im späten 19. Jahrhundert schon immer sehr interessiert“, sagt der Linzer Historiker, der der regionalen Mentalität ein Forscherleben lang nachgespürt hat – „dieses Deutschnationale, Christlichsoziale und Antisemitische zur Jahrhundertwende.“ In diesem Punkt hat er britischen und deutschen Forschern einiges voraus – er kennt die Region, in der Hitler groß geworden ist und ein Drittel seiner Lebenszeit verbracht hat. Und er ist vertraut mit der Sozialgeschichte Oberösterreichs wie kein Zweiter. „Wie kann es sein, dass aus Linzer Schulen drei der prominentesten Nationalsozialisten hervorgingen - Hitler, Kaltenbrunner und Eichmann“, fragte er sich. Und wie konnte ein Versager und Autodidakt aus der Provinz einen solchen Aufstieg schaffen?
Schlecht erforscht
„Als ich die Briefe hatte, habe ich begonnen, auch näher über die Kindheitsgeschichte Adolf Hitlers nachzuforschen“. Vieles sei schlecht oder schlampig erforscht. „Seit den 1950er-Jahren ist über seine Kindheit nichts Bedeutendes mehr entdeckt worden“, beklagt er. Sandgruber begann, einige bisher unbekannte und viele bekannte Quellen neu auszuwerten. So konnte er erstmals das nie veröffentlichte Original-Manuskript von Hitlers Jugendfreund August Kubizek aus dem Jahr 1943 einsehen. „Seine Enkelin hatte es mir zur Verfügung gestellt“, erzählt er. „Darin widerspricht Kubizek Hitlers Darstellung in Mein Kampf. Er schrieb: ,Hitler hat nicht recht – er ist schon in Linz ein Antisemit gewesen.’“ Das sei ein starkes Zeugnis, wenn jemand 1943 zu behaupten wagt: „Hitler hat nicht recht!“
Darum ist der Forscher auch sicher, dass sowohl Hitlers Antisemitismus als auch die Gewaltbereitschaft bereits mit 18 in seiner Oberösterreich-Zeit angelegt waren. „In Linz wurden drei der extremsten antisemitisch-rassistischen Zeitungen verlegt. Zwar mit geringem Verbreitungsgrad und ziemlich teuer, man kann trotzdem davon ausgehen, dass Hitler sie lesen konnte, wurden sie doch in Schaukästen auf der Linzer Landstraße ausgehängt.“ Hitler bewegt sich also schon damals in einer Subkultur, die von Kirchen-, Tschechen- und Judenfeindlichkeit geprägt war. „Auch der Rassismus war tief verankert. Alles wurde unter dem Begriff Zigeuner zusammengefasst, der Asozialen-Hass war groß. Es gab erste Rufe nach Haare abschneiden und Konzentrationslagern.“
Über Hitlers Vater ist nicht bekannt, dass er antisemitisch gewesen wäre. Ob er – die Leitfigur, die Hitler als „ganzen Mann“ bewundert hatte – mäßigend auf den jungen Adolf hätte einwirken können? Die Historiker sind skeptisch. Er war bereits 1903 in seinem Leondinger Stammlokal verstorben. Nach dem ersten morgendlichen Schluck. Der künftige „Führer“ war damals erst 14.
Roman Sandgruber ist Oberösterreicher und Historiker. Als emeritierter Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Linz kennt er die Milieus, in der sich die Odyssee der Familie Hitler bis zu Adolfs 18. Lebensjahr vollzogen hat, wie kein Zweiter.
Sein bisher letztes Buch Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses wurde als Wissenschaftsbuch des Jahres 2018 ausgezeichnet. Jetzt hat er auf Basis der entdeckten Briefe und weiterer neuer Quellen die erste Biografie von Hitlers Vater verfasst und ist der Frage nachgegangen, wie der Sohn zum Diktator wurde. (Molden, 29 €)
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