Warum Ärzte im Nationalsozialismus keine Einzeltäter waren

Hitlergruß an der Uni Wien Vorlesung von Eduard Pernkopf
Ein in Wien präsentierter Bericht beleuchtet die Medizinverbrechen in Österreich und Deutschland im Nationalsozialismus. Auch Fehleinschätzungen werden zurechtgerückt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galten Berlin und Wien als die besten Medizinschulen der Welt – und mit der Machtübernahme der Nazis in Deutschland 1933 sowie in der Folge mit dem „Anschluss“ Österreichs 1938 als die radikalsten: „Unter den Ärzten gab es mehr Nazis als in jeder anderen Berufsgruppe“, sagt Herwig Czech, Medizinhistoriker an der MedUni Wien.

Dass von einem Tag auf den anderen Tausende jüdische Mediziner (allein in Wien rund 3.200 von insgesamt 4.200) sowie in Gesundheitsberufen Tätige durch Arbeitsverbote ihre Existenzgrundlage verloren, ist allerdings nur die eine Seite. Die andere wiegt noch schwerer. 

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Ohne die Beteiligung von Medizinern wären der Holocaust und andere Massenmorde im Naziregime kaum möglich gewesen. Das Wissen über „diesen extremsten Fall der Beteiligung von Medizinerinnen und Medizinern an Menschenrechtsverletzungen“ sei daher von „universeller Bedeutung“, betonte Czech.

Allerdings – es ist gering. Der gestern an der MedUni Wien präsentierte, umfassende Report des renommierten Fachjournals The Lancet soll das Bewusstsein über die nationalsozialistischen Medizinverbrechen verbessern. Herwig Czech, der sich schon lange wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt, ist einer der drei Hauptautoren der Studie. Dahinter steht eine internationale, hochkarätig besetzte 20-köpfige Kommission, „The Lancet Commission on Medicine, Nazism, and the Holocaust“. Der Bericht baut auf 878 bereits publizierten Studien auf.

Falsche Meinungen wurden korrigiert

Ein Hauptanliegen des Teams war auch, falsche Meinungen zu korrigieren. So herrschte etwa bis in die 1980er-Jahre die Ansicht vor, die monströsen Taten – Zwangssterilisierungen, Tötung von Behinderten, Menschenversuche in den Konzentrationslagern – seien das Werk von Einzeltätern gewesen. Josef Mengele in Auschwitz oder der Psychiater Heinrich Gross am Wiener „Spiegelgrund“ werden häufig als Beispiele genannt. 

Czech betont hingegen, dass viele Täter aus dem wissenschaftlichen Mainstream kamen. „Deutschland blieb weiterhin eine führende Wissenschaftsnation.“ Manches Nazi-Wissen war Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg noch relevant. Dazu zählt etwa der nach dem Nazi-Rektor benannte „Pernkopf-Atlas“, der als Standard in der Anatomie-Ausbildung galt. Für die Darstellungen wurden Leichen von NS-Opfern verwendet.

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Auch Auswirkungen auf die Gegenwart wurden thematisiert

Die moralische Dimension der Medizin im Nationalsozialismus und die Auswirkungen auf die Gegenwart sind für die Lancet-Kommission ein weiterer Schwerpunkt ihres Berichts. Im Gegensatz zu Deutschland ist Medizingeschichte in der Medizinerausbildung kaum verankert. Übrigens auch in anderen Staaten ist das der Fall, wie der Mediziner und Studien-Mitautor Richard Horton aus den USA am Donnerstag in Wien sagte. Die heutige Medizin erscheine ihm manchmal, „als ob es den Holocaust nie gegeben hätte“. Während der Arbeit am Bericht habe er sich gefragt, warum er nicht bereits während seines eigenen Medizinstudiums damit konfrontiert worden sei.

Czech ergänzte, gerade die NS-Geschichte liefert unzählige konkrete Beispiele, wie sich ethische Grundsätze verschieben lassen. Die im Übrigen nicht erst bei Mord beginnen. Czech erwähnt unter anderem die NS-Kampagne der Zwangssterilisation. Diese habe „eine Unmenge an Personen gebraucht, die damit kollaboriert haben“.

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Hinter den Zahlen stehen Schicksale

Auch der erwähnte Auschwitz-Arzt Josef Mengele führte seine berüchtigten Experimente mit Zwillingen nicht ausschließlich alleine durch. An ihn erinnern sich Lia Huber und Judith Barea, Großmutter und Großtante von Kommissionsmitglied Shani Levay aus Israel, dennoch am deutlichsten.

1944 waren die 1937 in Ungarn geborenen Zwillinge nach Auschwitz deportiert worden, sie landeten im Zwillingsblock. Als SS-Offizier sei Mengele aufgetreten, erzählen die beiden heute in Israel lebenden Frauen in einer Videoeinspielung, einem der emotionalsten Momente während der Präsentation. „Furchtbar schmerzhafte Experimente“, Tests, Injektionen mussten sie über sich ergehen lassen. Ihre größte Angst war jedoch eine andere: Dass sie getrennt werden. Oft genug hätten sie erlebt, wie Zwillingspaare aus ihrem Block geführt wurden – und nur ein Zwilling kam zurück. Lia und Judith blieben zusammen. Angst begleitet sie dennoch. „Die Angst vor Ärzten ist bis heute geblieben.“

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