Living Planet Report: Wildnis ohne Wildtiere
Lederschildkröten leben auf Tauchstation. Sobald die Babys aus dem Ei geschlüpft sind, schieben sie sich mit ihren Paddelarmen über den Sand Richtung Meer und rudern auf Nimmerwiedersehen davon. Nur zur Eiablage kehren Weibchen an den Strand ihrer Geburt zurück. So lässt sich der Bestand dieser Langstreckenschwimmer lediglich anhand der Nestflüchter hochrechnen. Und genau das machen Wissenschafter alle zwei Jahr für den Living Planet Report.
Massive Verluste seit 1970
Im aktuellen Bericht, den der WWF und die Zoologische Gesellschaft London eben präsentierten, halten sie fest, dass die Zahl der größten Schildkrötenart seit 1995 um 84 Prozent gesunken ist. Insgesamt werteten Forscher aus 61 Organisationen heuer 4.392 Wirbeltier-Arten und 20.811 Populationen aus: Die Bestände weltweit sind seit 1970 um durchschnittlich 68 Prozent gesunken.
Wende möglich
„Der Living Planet Index ist die Fieberkurve des Planeten. Er sagt uns, wie es uns geht“, erklärt Georg Scattolin, Leiter des internationalen Programms beim WWF Österreich, und fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus 2020 auch gleich zusammen: „Der globale Gesundheitscheck zeigt einen neuen Tiefstand. Doch eine Wende ist möglich.“
Negativtrend setzt sich fort
Vom Östlichen Flachlandgorilla bis zum Stör im Jangtse – der Negativtrend, der mittlerweile in 13 Living Planet Reports dokumentiert ist, hat sich weiter fortgesetzt. 2018 wies der Bericht einen Schwund an Tieren von 60 Prozent aus, aktuell sind es um acht Prozent mehr.
„Grundsätzlich gibt es vier Auslöser: Flächenfraß, Übernutzung, Verschmutzung und die Klimakrise“, sagt Scattolin. Oft ist es eine Kombination, die den erfassten Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Fischen das Überleben erschwert.
Vögel wie Schmetterlinge gefährdet
Graupapageien in Ghana z. B. leiden unter dem Verlust an Lebensraum und unter Wildfang für die Haustierhaltung; ergibt minus 99 Prozent in den vergangenen 28 Jahren. Bei den Europäischen Grünland-Schmetterlingen – heuer erstmals berücksichtigt – kam es zu Verlusten zwischen 39 und 49 Prozent. Konventionelle Landwirtschaft, die Futterpflanzen abmäht und Insektizide einsetzt, trägt dazu wesentlich bei.
Regenwald und Meere besonders betroffen
Raubbau im Regenwald macht Lateinamerika geografisch zur größten Problemzone. In Sachen Ökosystem stehen Süßwasserwelten am stärksten unter Druck – weltweit und in Österreich. Drei Meter lange Riesenwelse im Mekong etwa können Staumauern nicht überwinden, nicht zu ihren Laichplätzen wandern. Überfischung und Verschmutzung setzen allen Flussbewohnern zu.
Mitunter trägt aber auch der Schutz einer Art zur Gefährdung anderer bei. Fischotter sorgen hierzulande immer wieder für Konflikte zwischen Naturschützern und der Fischereiwirtschaft, weil sie in Teichen räubern. Auch die Rückkehr des Wolfes, der sich an Weidevieh satt frisst, wird nicht überall begrüßt.
Schutzmaßnahmen greifen
Im Positiven, wie im Negativen: „Wir sehen, dass Maßnahmen funktionieren“, sagt Scattolin: „Der Mensch verursacht nicht nur das Problem, sondern hält auch den Schlüssel für die Lösung in den Händen.“ So rettete etwa das internationale Walfangmoratorium die Buckelwale im westlichen Südatlantik. 1958 schwammen dort nur 450 Tiere, jetzt sind es geschätzte 25.000 Individuen. Ein Jagdverbot auf Singschwäne wiederum trug in Großbritannien zur Verdoppelung der Zahl bei.
Globaler Naturschutzpakt gefordert
„Einerseits gehören Arten und ihre Lebensräume überall besser geschützt, andererseits müssen wir an den Wurzeln der Probleme ansetzen und eine Ernährungswende einleiten“, schließt WWF-Experte Georg Scattolin und fordert: „Wir brauchen einen globalen Naturschutzpakt.“
Kommentare