Legasthenie: Wenn die Buchstaben Purzelbäume schlagen
„Lechts und rinks kann man nicht velwechsern“, dichtete einst Ernst Jandl. Doch, man kann die Buchstaben verwechseln: Beim Lesenlernen benötigt jedes achte Kind Hilfe, die über das übliche Maß hinausgeht, vier bis acht Prozent haben die Diagnose Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) – besser bekannt als Legasthenie. „Der Übergang ist hier fließend“, sagt Veronika Kerschbaumer, Obfrau des Therapeuten-Berufsverbands BALDT. Sie kennt die Mythen und Fakten zum Thema.
Im Interview erfahren Sie,
- was die Anzeichen für eine Legasthenie sind
- was einen guten Therapeuten ausmacht
- wie Eltern unterstützen können
- wie eine Therapie-Stunde aussehen kann
- worauf die Schule achten sollte
KURIER: Wie erkenne ich, ob mein Kind legasthen ist? Gibt es da bereits in der Vorschulzeit Anzeichen?
Veronika Kerschbaumer: Ja. Immer dann, wenn es bei bestimmten Vorläuferfertigkeiten Probleme gibt. Tut ein Kind sich dabei schwer, Reime zu bilden oder Silben zu klatschen, ist das ein Hinweis darauf, dass das Lautbewusstsein nicht ausreichend entwickelt ist. Auch wenn es Probleme hat, Objekten oder Farben rasch zu benennen oder Wortschatz und manchmal auch die Grammatik die altersgemäß sitzen, sind das Risikofaktoren dafür, dass das Kind später einmal Probleme beim Schriftspracherwerb hat.
Feststellen lässt sich Legasthenie aber erst in der Schule. Wie äußert sich das?
Wenn auch bereits geübte Wörter im Vergleich mit den Leistungen der Mitschülerinnen und -schüler langsam, unsicher oder häufig fehlerhaft erlesen werden, sind das Anzeichen einer LRS. Machen wir es an einem konkreten Beispiel fest: Beim Wort „Melone“ muss ich die Silben Me-lo-ne sehen und gleichzeitig erkennen können, welches Wort es bedeutet. Oft beginnen betroffene Kinder völlig zeitverzögert und sagen „M - M – M - Melone“, sodass der erste Buchstabe verlängert wird und das ganze Wort nicht gleich flüssig herauskommt. Da könnte man meinen, dass das Kind stottert. Es braucht aber so lange, weil es selbst häufig vorkommende Wörter immer wieder neu erlesen muss. Auch wenn diese sieben- oder zehnmal gelesen wurden, muss das Kind immer wieder von vorne anfangen, weil ein direkter Abruf trotz Übung nicht gelingt. Betroffene lesen zudem oft sehr langsam und machen viele Fehler. Das Textverständnis ist oft gar nicht oder nur ungenügend gegeben, weil sich das Kind zu sehr darauf konzentrieren muss, den richtigen Laut zum Buchstaben zu finden. So bleibt das Leseverständnis auf der Strecke.
Wer erstellt die Diagnose?
Für die klinische Diagnose nach wissenschaftlichen Klassifikationen (wie zum Beispiel ICD oder DSM) braucht es auch einen Intelligenztest, den nur die Berufsgruppe der klinischen Psychologen machen darf.
Ein Legasthenietest ohne IQ-Test ist also unseriös?
Nein, man kann Legasthenie auch im Vergleich zur Klassennorm feststellen. Das dürfen alle Therapeuten, die die Ausbildung haben, machen.
Kann ich durchschnittliche oder gute Leistung bringen, wenn ich nicht lesen kann? Auch in Mathe gibt es Textaufgaben.
Im Unterricht führt die LRS zu kuriosen und sehr unterschiedlichen Situationen: Manche lesen komplett flüssig – so hört es sich zumindest an –, haben aber nur ein geringes Textverständnis. Andere können in Mathe oder im Sachunterricht alle Aufgaben lösen, doch es fehlt ihnen die Zeit, weil sie so lange brauchen, die Aufgaben zu verstehen. Dann gibt es die, die in allen Fächern auf „Sehr gut“ stehen, nur in Deutsch auf „Befriedigend“.
Es ist aber nicht nur das Lesen, sondern auch das Schreiben ein Problem.
Beides hängt nicht zwangsläufig zusammen. Bei einem purzeln die Buchstaben durcheinander, dem anderen fallen sie nicht mehr ein, obwohl er sie 100 prozentig gelernt hat. Die Kinder erfassen keine Rechtschreibregel – sie üben, üben, üben, und schreiben die Wörter dennoch in zig Variationen.
An wen wende ich mich, wenn ich als Elternteil eine seriöse Diagnose benötige? Wie erkenne ich einen kompetenten Ansprechpartner?
Ich empfehle darauf zu achten, welche Ausbildung jemand hat: Es sollte eine spezifische wissenschaftliche Ausbildung sein, die mindestens zwei Jahre dauert. Wichtig ist: Lesen lernt man durch Lesen, Schreiben durch Schreiben. Auf keinen Fall sollte man Versprechungen glauben, dass man Legasthenie in ein paar Wochen auf spielerische Weise „heilen“ kann. Ich empfehle Therapeuten, die an der Uni ausgebildet wurden oder am Gesundheitsinstitut Proges.
Kann man Legasthenie heilen? Und wie sieht die Therapie aus?
Am Anfang muss die Diagnose stehen. Darauf folgt die Therapie, die sich an den Symptomen orientiert. Am Ende steht eine Strategie, wie das Kind mit den Defiziten zurecht kommt.
Nehmen wir das Beispiel „Zusammenlauten“. Wie gehe ich so etwas an?
Als Therapeuten versuche ich, dem Kind mit Silben das Lesen näher zu bringen. Ich sage etwa M A wird zur Silbe MA – und trainiere dann Wörter, die diese enthalten. So lernt es von Beginn an, mit Silben zu lesen. Ganz wichtig: Nach 20 Stunden mache ich eine Verlaufsdiagnostik, damit ich sehe, ob die Therapie greift – gegebenenfalls kann ich diese umstellen.
Sie haben schon angedeutet, dass es bereits im Kindergartenalter Indizien für Legasthenie gibt. Was kann ich als Elternteil tun?
Gemeinsam Lesen ist essenziell. Beim Vorlesen sollten Eltern immer wieder nachfragen: Worum ist es gegangen, was haben wir gehört? Auch die alten Reim- oder Laufspiele sind zu empfehlen, etwa: Die „Maus“ hört mit „S“ auf - sag einen Tiernamen, der mit „S“ beginnt. So kann ich trainieren, Laute herauszuhören. Auch Rhythmik kann ich üben, indem ich Schritte zu den Silben mache. Oder: Ich klatsche zweimal zum Wort „Af - fe“ und frage: „Kennst du ein Tier mit drei Silben?“.
Lehrerinnen und Lehrer gehen mit Betroffenen sehr unterschiedlich um.
Zum Glück wird hier vieles besser, auch wenn die Lehrpersonen oft verunsichert sind – zum einen, weil die Pädagogischen Hochschulen hier zu wenig ausbilden, zum anderen, weil die Legasthenie-Erlässe in jedem Bundesland anders sind. Allerdings wird es für das Kind immer schlimmer, wenn die Schule keine Rücksicht nimmt. Dann kommen Sekundärphänomene wie Schulangst, Lernverweigerung bishin zu Depression hinzu. Eltern können sensibilisieren, aufklären, und Gespräche mit Schulen oder Bildungsdirektion führen.
Was kann die Schule beitragen?
Ich wünsche mir ein Miteinander auf Augenhöhe zwischen Lehrkräften, Eltern und Therapeutinnen und Therapeuten: Wir können spezielles Know-how einbringen, die Eltern kennen das Kind am besten und haben das Lernen daheim zu managen und die Lehrkräfte sind die Speerspitze für Lernen und Lernmotivation. Das Erarbeiten eines gemeinsamen Lernplanes für das Kind mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten ist es, was ich diesen Kindern wünsche - für Freude (auch am kleinen) Fortschritt.
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