Die Annahme, dass die familiäre Chronologie persönlichkeitsbestimmend ist, ist also nachvollziehbar. Wissenschaftlich gesehen ist an dieser Erzählung aber kaum etwas dran.
Kein wahrer Kern in den Klischees
"Man kann sich wissenschaftlich sehr gut anschauen, ob Personen, die als Erstgeborene aufgewachsen sind, im Erwachsenenalter anders sind als Nesthäkchen oder Sandwichkinder", erläutert Rohrer. Große Datensätze aus unterschiedlichsten Ländern der Welt würden immer wieder – so auch erst kürzlich – dieselbe Erkenntnis liefern: "Diese Persönlichkeitseffekte gibt es im Prinzip nicht." Bislang habe sich in keiner soliden Studie belegen lassen, dass Erstgeborene beispielsweise im Schnitt gewissenhafter wären, oder Zweitgeborene deutlich risikobereiter. "Es gibt natürlich Familien, in denen diese Klischees zutreffen – aber es gibt genauso viele, in denen es umgekehrt ist", präzisiert Rohrer. Internationale Daten legen auch nahe, dass das Geschlecht der Geschwister, sprich, ob man als Mädchen mit Jungen aufwächst oder umgekehrt, die Persönlichkeit nicht beeinflusst.
Einzige Ausnahme: die Intelligenz. In westlichen Ländern konnten Forschende wiederholt demonstrieren, dass "Erstgeborene ein kleines bisschen intelligenter sind", wie es Rohrer formuliert. Der Unterschied sei minimal und im Alltag kaum relevant. Aber empirisch fassbar: "Auf gängigen IQ-Skalen erzielen sie zwei bis drei Punkte mehr."
Erklärungsansätze gibt es viele: Möglich sei laut Rohrer, dass Eltern beim ersten Kind noch über mehr Kapazitäten zur intellektuellen Stärkung verfügen. "Wir wissen, dass gerade die frühe kognitive Stimulation wichtig ist." Belege gebe es auch dafür, dass Mütter während der ersten Schwangerschaft beispielsweise bei der Ernährung besonders achtsam sind, und bei weiteren Geburten etwa im Umgang mit Alkohol lockerer werden. Interessant: In ärmeren Ländern, wo das älteste Kind oft früh die Schule verlassen muss, um das Familieneinkommen mitzusichern, zeigt sich der IQ-Effekt nicht.
In schwedischen Studien konnte gezeigt werden, dass die Ältesten eher Karrieren als Ärztinnen oder Ingenieure ansteuern, während ihre Geschwister sich beruflich eher dem Journalismus oder anderen kreativen Tätigkeiten zuwenden. "Unklar ist, ob die Berufspräferenzen im Intellekt wurzeln, oder ob beim ersten Kind schlicht der Druck, einen angesehenen Beruf zu ergreifen, größer ist."
Einzelkinder sind nicht häufiger Egoisten
Besonders groß ist das Forschungsinteresse an Einzelkindern. Ihr Sonderstatus reicht lange zurück. In eine Zeit, in der sie nahezu pathologisiert wurden. "Schlicht deswegen, weil es früher kaum Familien mit nur einem Kind gab." Noch heute ist der familiäre Hintergrund von Einzelkindern einzigartig: "Wenn es bei einem Kind bleibt, hat das oft Gründe: Die Partnerschaft geht in die Brüche, es war besonders schwierig mit dem ersten Baby, man hat zu spät mit der Familienplanung angefangen." Berücksichtigt man diese Faktoren in der Forschung, zeigt sich aber: Ein übermäßiger Narzissmus lässt sich bei Einzelkindern nicht festmachen.
Eltern brauchen sich, auch das betont Rohrer, ohnehin nicht übermäßig um die Persönlichkeitsentwicklung sorgen. "Bei vielen Eigenschaften sind zu rund 50 Prozent die Gene ausschlaggebend. Die anderen 50 Prozent werden durch die Umwelt geformt." Seziert man den Einfluss Letzterer, so scheint das, was im Elternhaus passiert und alle gleichermaßen betrifft, weit weniger bedeutend als spätere Freundeskreise oder die Schule.
Sandwichkinder brauchen elterliche Aufmerksamkeit
Hat man drei Kinder, hat aber tatsächlich das mittlere Kind einen gewissen Nachteil: Es bekommt nie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern, konkurriert entweder mit dem älteren oder jüngeren Geschwisterchen. "Da lohnt es sich, feste Zeiten einzuplanen, die nur dem Sandwichkind gewidmet sind", rät Rohrer.
Sich den Lauf des Lebens über geschwisterliche Dynamiken und Konstellationen erklären – auf viele Menschen wird das wohl weiterhin eine besondere Faszination ausüben. "Diese Wahrheiten möchte ich auch niemandem absprechen", summiert Rohrer. "Wissenschaftlich haltbar sind sie aber nicht."
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