An kompensatorischen Verhaltensweisen, die nicht gut für einen sind. Die können unterschiedlich sein, je nachdem, was mich als Kind verletzt hat. Zum Beispiel ein ausgeprägtes Streben nach Harmonie, starkes Misstrauen anderen gegenüber, Leistungszwang, ein Helfer-Syndrom, Klammerverhalten aus Angst verlassen zu werden oder Fluchtverhalten bei Überforderung. Auch ein Hang zum schnellen Angriff kann aus der Kindheit stammen, genauso wie Perfektionismus.
Da erkennen sich wohl viele wieder. Hat jeder ein inneres Kind mit Blessuren?
Es ist so gut wie unmöglich, kein verletztes inneres Kind zu haben. Bis zu unserem 18. Lebensjahr hören wir ungefähr 180.000 negative Autosuggestionen, Sätze oder Urteile, die uns jemand anderer über uns selbst sagt. Nicht jede macht eine Verletzung am inneren Kind. Aber wenn wir Sätze immer wieder gehört haben, kann das ein Schutzverhalten bedingen, das in der Kindheit höchst hilfreich war, im Erwachsenenalter aber zur Last werden kann.
Im Zusammenhang mit dem inneren Kind ist oft von Traumata die Rede. Wie halten sie es damit?
Eine Verletzung des inneren Kindes kann, muss aber nicht gleichzeitig ein Trauma sein. Sonst wären wir alle traumatisiert. Wir können Schmerzhaftes erlebt haben, ohne dass es gleichzeitig traumatisierend war.
Der Mensch durchläuft viele prägende Phasen. Wird der Einfluss der Kindheit überschätzt?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die allermeisten in den vorhin genannten Verhaltensweisen wiedererkennen – und in den Ursachen. Dadurch fühle ich mich in dem Ansatz bestätigt. Fakt ist aber auch: Man muss die Kindheit nicht überbewerten. Wir haben ja die Fähigkeit, uns im Nachhinein eine glückliche Kindheit zu gewähren.
Inwiefern?
Wir können im Nachhinein Schmerz in Neutralität oder gar etwas Positives verwandeln. Unser Gehirn macht das möglich, denn es ist so ausgelegt, dass es ihm sozusagen gleichgültig ist, ob wir etwas real erlebt haben, oder ob wir uns in Gedanken zurückbeamen. Es wird gleich reagieren. In der Arbeit mit dem inneren Kind heißt das, dass wir mit neuen Visualisierungen, die uns gut tun, den Schmerz unserer Kindheit überschreiben können.
Das heißt also, man stellt sich gedanklich die Eltern zur Seite, die man sich gewünscht hätte …?
Man schaut, was man für Muster hat, die im Alltag mehr Probleme machen als helfen. Zum Beispiel Harmoniesucht. Dann schaut man, woher das kommt. Etwa, weil man als Kind immer brav und still sein musste und nicht aufmucken durfte. Nur dann wurde man wertgeschätzt. Das ist die Verletzung. Daraus ergibt sich, was einem als Kind gefehlt hat: die Überzeugung, dass man okay ist – egal, ob man laut oder leise ist. So gibt bei jedem von uns Bereiche, wo wir nicht wachsen konnten und Kind geblieben sind. Weil wird nicht den Dünger bekommen haben, die wir gebraucht hätten. Durch die Beschäftigung mit dem inneren Kind können wir in diesen Bereichen erwachsen werden.
Die Idee, dass alles, was Eltern getan oder nicht getan haben, belasten kann: Macht das Müttern und Vätern nicht unnötig Druck?
Das Ideal, seinem Kind keine einzige innere Verletzung zufügen zu wollen, ist kein gutes. Dann erzieht man ein Kind, das nie mit einer Verletzung umgehen gelernt hat – und ohne Schutzstrategien hinaus in die Welt geht. Das Beste, was man für seine Kinder tun kann, ist, in sich selbst aufzuräumen.
Wenn man intensiv damit beschäftigt ist, seine Vergangenheit aufzuarbeiten, versäumt man dann nicht die Chance, seine Zukunft zu entwerfen?
Im Gegenteil. Man kann sich natürlich in allem verlaufen. Aber das ist nicht mein Ansatz. Der ist vielmehr in die Zukunft gerichtet. Wenn man eine starke Kindheitsverletzung hat, erlebt man in seinem Leben immer wieder ähnliche Enttäuschungen. Oft wissen wir nicht, warum. Die Arbeit ist dazu gedacht, um dieses Unverständnis aufzulösen. Und endlich die Zukunft zu erschaffen, die man sich wünscht – und eben nicht die Wiederholung der Vergangenheit.
Sie schreiben, dass wir die Liebe unserer Eltern nachstellen. Dass die Beziehung unserer Eltern auch unsere formt. Wie zeigt sich das?
Unsere Eltern waren unsere erste große Liebe. Unbewusst glauben wir, dass Liebe so funktioniert, wie wir es vorgelebt bekommen haben. Auch wenn wir vielleicht die Beziehung unserer Eltern nicht gutheißen. Das kann dazu führen, dass wir uns einen Partner suchen, der dem Elternteil, mit dem wir vielleicht nicht so eine gute Beziehung haben, sehr ähnlich ist. Weil das innere Kind das Bedürfnis hat, sich mit diesem Elternteil zu versöhnen. Es kann aber auch sein, dass wir uns genau das Gegenteil aussuchen – vielleicht auf zu extreme Art und Weise. Oder wir stellen die Beziehung unserer Eltern in unserer eigenen Partnerschaft nach.
Wie wichtig ist es, die reale Beziehung zu seinen Eltern zu kitten?
Von Vorwürfen rate ich ab. Da kommt es meistens zu einem Konflikt. Eltern entstammen immer einer anderen Generation – und man sollte bedenken, dass sie es unter den ihnen verfügbaren Umständen so gut wie möglich gemacht haben. Ich würde eher zur inneren Versöhnung mit den Eltern raten.
In der Kindheit lassen sich auch Erfahrungen sammeln, die Menschen zu resilienten Erwachsenen machen. Wie kann dieses Positive im Erwachsenenalter für sich nutzen?
Es gibt neben dem verletzten inneren Kind auch immer ein gestärktes inneres Kind, das sich aus der Kindheit viel Gutes mitnehmen konnte. Dafür darf man bewusst dankbar sein. Darüber hinaus lässt sich auch aus Verletzungen Positives ziehen: Wenn ich zum Beispiel als Kind viel leisten musste und heute einen Leistungszwang habe, hat mich dieser wahrscheinlich im Leben auch weitergebracht und mich viel erschaffen lassen.
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