Florian Aigner: "Die Wahrheit liegt nicht irgendwo in der Mitte"
Als der Physiker Florian Aigner mit dem Schreiben angefangen hat, verband man mit dem Begriff Corona höchstens eine Biersorte. Jetzt sind wir mitten in der Pandemie, und es wird so viel über Forschung geredet wie schon lange nicht mehr. Dass auf die Wissenschaft Verlass ist, obwohl sie sich manchmal selbst zu widersprechen scheint, ist ein Thema in Aigners Buch: „Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Eine Liebeserklärung an die Wissenschaft.“
KURIER: Das Buch kommt zum richtigen Zeitpunkt.
Florian Aigner: Ja. Dennoch freue ich mich natürlich nicht über die Pandemie – mit diesen Themen beschäftige ich mich schon seit Jahren. Wir alle lernen jetzt, ganz neu über die Bedeutung der Wissenschaft nachzudenken.
Menschen vertrauen häufiger ihrem Bauchgefühl als der Forschung. Ein Fehler?
Nicht unbedingt. Da muss man unterscheiden: Es gibt Fragestellungen, für die die Naturwissenschaft nicht zuständig ist, die aber für unseren Alltag wichtig sind. Wir Menschen sind soziale Wesen mit Gefühlen, Traditionen und Ritualen. Darüber kann uns die Naturwissenschaft wenig sagen. Wenn wir uns mit solchen Dingen beschäftigen, ist das Bauchgefühl die einzig vernünftige Instanz. Daneben gibt es Fragestellungen, bei denen nur klare wissenschaftliche Antworten gelten: Wodurch wird Corona ausgelöst? Oder: Wie bekomme ich bessere Handy-Chips?
Wenn man über Themen wie Corona diskutiert, kann man mit noch so vielen Fakten kommen – einige Menschen antworten dann gerne: Das kann man so und so sehen.
Es gibt natürlich Fragen, die man so und so sehen kann. Die Wissenschaft ist ja keine fertige, abgeschlossene Sammlung absoluter Wahrheiten. Man kann alles hinterfragen, und alles kann in Zweifel gezogen werden. Das heißt aber nicht, dass das, was die Wissenschaft hervorgebracht hat, generell wackelig ist. Es gibt in der Wissenschaft unterschiedliche Ebenen an Verlässlichkeit: Manches ist so gut bestätigt, dass da kein Zweifel mehr besteht. Beispiel: Corona ist eine Viruserkrankung. Dann gibt es aber auch Bereiche, wo man noch forschen muss, wo vielleicht noch Daten fehlen, wo man mit wissenschaftlichen Argumenten unterschiedliche Meinungen vertreten kann. Das ist der Grund, warum sich manche mit dem Vertrauen in die Wissenschaft schwer tun.
Hierfür ist Corona ein wunderbares Beispiel.
Ja, nehmen Sie die Masken. Da hieß es anfangs, die bringen nichts. Jetzt heißt es: sie schützen. Das hat für viel Verunsicherung gesorgt. Da bekommt man leicht das Gefühl, auf die Wissenschaft ist kein Verlass – das ist gefährlich. Es gilt es zu unterscheiden zwischen Fakten, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann, und auf die andern, für die es noch keine genauen Erkenntnisse, sondern nur berechtige Vermutungen gibt.
Wir erleben jetzt live, wie Wissenschaft funktioniert.
Ja. Früher gab es die goldene Regel im Wissenschaftsjournalismus, dass erst nach dem Peer-Review über etwas geschrieben wird – also wenn jemand etwas in einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht hat. Jetzt hat sich das geändert, allerdings aus gutem Grund: Man kann mit politischen Entscheidungen nicht warten, bis alle Daten da sind und wir ein endgültiges wissenschaftliches Bild bekommen haben. Wenn es schnell gehen soll, muss man sich manchmal mit Annahmen zufrieden geben, die mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind. Man muss hier großzügig sein: Wenn die Forschung momentan Ergebnisse liefert, die in sechs Monaten anders gesehen werden, ist das nicht schlechte Wissenschaft, sondern unvermeidlich.
Spielt da eine Rolle, dass medizinische Forschung anders abläuft als z. B. physikalische?
Ja, denn Physik ist eine Wissenschaft, die einfache Objekte beschreibt – man kann ein Leben lang über einzelne Atome nachdenken. In der Medizin hat man mit komplexen Objekten zu tun, auf die unzählige Dinge Einfluss haben, die man nie alle kontrollieren und berücksichtigen kann – etwa die Gene, die Lebensweise etc. Für Physiker ist es leichter, ein Experiment zu machen, das 100 Mal zum gleichen Ergebnis kommt als für Mediziner.
Gibt es TV-Diskussionen, über die Sie sich wundern?
Manche Thesen sind so verrückt, dass es wie eine Verschwörungstheorie klingt, dass jemand diese glaubt. Etwa, dass 5G-Sendemasten für Corona verantwortlich seien.
Sollten diese Positionen in den Medien vorkommen?
Ich finde: Nein. Meinungsvielfalt ist wichtig, aber manche Meinungen sind so jenseitig, dass man ihnen keine zusätzliche Aufmerksamkeit verschaffen soll.
Psychologen sagen, Verschwörungstheorien helfen, Ängste zu bewältigen.
Das stimmt sicher. Man soll solche Leute auch nicht einfach für dumm erklären. Es sind sogar oft durchaus intelligente Menschen, die sich mit solchen Theorien beschäftigen. Sie recherchieren viel zu einem Thema, schaffen es aber oft nicht, zwischen verlässlichen und unverlässlichen Quellen zu unterscheiden. In einer Zeit der Angst blühen immer Verschwörungstheorien auf.
Was wäre hier die Aufgabe der Schule?
Ich sehe das als ein kulturelles Problem. Wir brauchen eine Kultur des klaren Denkens – das muss man Schritt für Schritt lernen. Man sollte etwa einschätzen können, ob ein Artikel, den mir ein Freund schickt, ein Blödsinn ist. Schule muss den Umgang mit Informationen vermitteln.
Für jede These scheint es einen Experten zu geben. Wie kann man da als Laie wissen, wer recht hat? Und kann es nicht sein, dass jeder ein stückweit recht hat?
Nehmen wir ein Extrembeispiel. Wenn jemand sagt: „Die Erde ist eine Scheibe“, ist das falsch. Hier liegt die Wahrheit auch nicht irgendwo in der Mitte. Ein Kompromiss zwischen der Wahrheit und einem schrecklichen Unsinn ist immer noch schrecklicher Unsinn. Es gibt leider keine einfache Regel, mit der man Fakten von Unsinn unterscheiden kann, das ist immer mit großer Mühe verbunden. Oft glauben wir Dinge, einfach weil wir gerne hätten, dass sie stimmen. Oder weil der soziale Druck groß ist. Das ist menschlich und verständlich, aber nicht zielführend. Fakten sind Fakten, auch wenn unser Bauchgefühl die Sache manchmal anders sieht.
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