Hannes Leidinger gehört zu jenen Historikern, die die Quellen neu aufgearbeitet haben und erzählt, wann er seinen Heureka-Moment hatte: „Ich saß im Außenpolitischen Archiv in Paris und plötzlich ging mir ein Licht auf – die Politik wurde nicht über ideologische Gegensätze ausgetragen, sondern über die Frage des Bankenstandorts Österreich.“ Wien hatte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu den wichtigsten Finanzzentren weltweit gehört.
Will man Österreich?
Noch zur Zeit des „Anschlusses“ stuften Konjunkturforscher den Finanzmarkt für den Balkanraum als besonders wichtig ein. Gleichzeitig setzte in der Zwischenkriegszeit unter den Großmächten ein Wettlauf um die lukrativen Ostgeschäfte ein. Das französische Außenamt warf etwa den Sowjets die Unterwanderung des Bankensektors vor. Leidinger: „In Wahrheit wollten die Franzosen die großen sieben Banken einkaufen, die aus der Monarchie noch übrig geblieben waren. Und da stellte sich die Frage, ob man Österreich überhaupt noch wollte.“ Das sei, so der Historiker, ein interessanter wirtschaftlicher Aspekt, der zuvor nie gesehen wurde.
Für die Sowjetunion kam der „Anschluss“ Österreichs alles andere als überraschend, die pessimistische Sicht auf die Unabhängigkeit zieht sich ab 1933 durch die Berichte der Sowjetgesandtschaft in Wien.
Außenkommissar Maksim Litvinov konstatierte am 14. März 1938 hellsichtig: „Die Eroberung Österreichs stellt das größte Ereignis nach dem Weltkrieg dar, voll von größten Gefahren auch nicht zuletzt für unsere Union.“ Man sorgte sich weniger um das Völkerrecht und Österreich als vielmehr um die Sicherheit des Bündnispartners Tschechoslowakei.
Bestens informiert
Der Aufruf Litvinovs, den „Anschluss“ in einer Konferenz mit Großbritannien und Frankreich zu besprechen, blieb ungehört. Und war wohl auch eher Propaganda. „Die Sowjetunion war bestens informiert, dass die beiden nur formal protestieren würden“, weiß Historiker Karner. Und so protestierte auch die UdSSR weder schriftlich noch mündlich bei der deutschen Regierung.
Für London spielte Österreich ohnedies nur eine untergeordnete Rolle, und Frankreich wurde im März 1938 nicht tätig, weil Großbritannien und Italien nicht reagieren wollten. Karner: „Man bezog sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker.“ Und akzeptierte.
Und Amerika?
Die USA waren mit sich selbst beschäftigt. Wobei man in Übersee genau wusste, was los war. Bereits 1935 meldete der US-Gesandte George S. Messersmith nach Washington: „Die Frage der Unabhängigkeit Österreichs ist zum wichtigsten Faktor in der Erhaltung des Friedens in Europa geworden“. Doch die Vereinigten Staaten vermieden längst jede Provokation Hitlers und rührten keinen Finger, um der österreichischen Regierung zu Hilfe zu kommen.
Zwar empörte sich die amerikanische Öffentlichkeit über die Behandlung der Wiener Juden, lehnte aber gleichzeitig die Erhöhung der Einwandererquote ab. „23.000 und nicht mehr wurden aufgenommen. Begründet wurde das mit der Arbeitslosigkeit im eigenen Land“, sagt Karner.
Und so erfährt man, dass nur ein einziges Land in der Folge bereit war, Juden aus Österreich aufzunehmen: Lettland sicherte 400 das Überleben.
„Wir müssen Österreich anders denken, nicht als Österreich, sondern als Mitteleuropa“, resümiert Historiker Leidinger. „Klein, destabilisiert, offen in unterschiedliche Richtungen, zeigten sich hier verschiedene Konfliktlinien, sehr diverse Mitteleuropa-Konzepte werden sichtbar.“
Hatte Österreich eine Alternative?
„Diese Chancen waren ab Mitte der 1930er-Jahre verloren gegangen“, ist Leidinger sicher. „Spätestens da war Österreich weitestgehend isoliert, die Versuche mit den Nachbarländern zu kooperieren, ein Netzwerk der Kleinen zu nutzen, scheiterten.“ Mexiko sprach vom Mord an Österreich. „Dieser Mord wurde international bestenfalls zu einem Unfall heruntergespielt“, sagt Karner.
P.S. Noch Anfang Februar 1938 antwortete der US-Gesandte Wiley einem Kollegen auf die Frage nach der Stärke der Nationalsozialisten in Österreich: „Wahrscheinlich sind es nicht mehr als 10 Prozent Hundertprozentige, 40 Prozent sind Hasenfuß-und-Mitläufer-Nazis (milk toast Nazis) und der Rest sind Opportunisten.“
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