Der „Anschluss“: 1938 aus einem anderen Blickwinkel

Auf der Turmloggia des Wiener Rathauses wurde vor der Abstimmung zum „Anschluss“ ein provisorischer Balkon errichtet. Dort nahm Hitler unter Wagner-Klängen die Ovationen der Massen entgegen
23 Historiker wollten wissen, was in der weiten Welt passierte, während Österreich um seine Unabhängigkeit rang.

Da war selbst Stefan Karner überrascht: Ja, Mexiko war das einzige Land der Welt, das 1938 gegen den „Anschluss“ protestierte. Schriftlich und beim Völkerbund. So viel ist bekannt. Dahinter standen aber neben moralischen Überlegungen auch handfeste mexikanische Interessen: Über Mittelsmänner erstanden die Mexikaner bei der Hirtenberger Patronenfabrik in Niederösterreich heimlich gewaltige Mengen Munition. Man verfolgte den spanischen Bürgerkrieg mit Sorge und fürchtete Folgen für die mexikanische Unabhängigkeit. „Wenn Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen würde, wäre es natürlich vorbei mit den Waffenlieferungen“, erzählt Karner, renommierter Historiker und lange Jahre Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung. Und ergänzt: „Also mir war das völlig neu“.

In den Quellen Neues gefunden

Nachzulesen ist diese Anekdote im neuen Buch „1938, der ‚Anschluss‘ im internationalen Kontext“, das Karner jetzt gemeinsam mit Peter Ruggenthaler herausgegeben hat. Das Besondere daran: „23 Autoren – internationale und heimische Forscher – sind zu den Quellen vorgedrungen. Haben Archive von Rom über Warschau bis Moskau und von Washington über London bis Budapest durchforstet.“ So ist viel Neues zutage getreten. „In Österreich sind wir gewohnt, uns den ,Anschluss’ in der Innensicht anzusehen. Dazu gibt es viel Literatur“, sagt Karner. Doch diese Untersuchung ist anders. „Sie zeigt das Verschwinden eines Staates von der politischen Landkarte. Vor allem aber zeigen sich die Entscheidungsmechanismen in den einzelnen Staaten, die zu den bekannten halbherzigen Reaktionen geführt haben.“

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