Müde Köpfe einigen sich schlechter

Schlafexperten betonen: Wer die ganze Nacht wach bleibt, findet deutlich schwerer zu einer Einigung.

Müde Blicke, tiefe Augenringe, fahler Teint: Den Verhandlern der Jamaika-Sondierungen – allen voran Kanzlerin Angela Merkel (siehe großes Bild) – war der Schlafentzug der vergangenen Tage buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Teilweise bis um vier Uhr morgens hatten die Vertreter der Parteien über eine mögliche Koalition verhandelt, bevor die Gespräche abgebrochen wurden. Angesichts der Bilder der übernächtigten Politiker sahen sich deutsche Schlafforscher zu einer Warnung gezwungen: Müdigkeit führe gesteigerter Risikobereitschaft und Streitlust. Wer wenig schläft, könne Probleme schlechter lösen und entscheide eher falsch.

"Bei Schlafmangel geht der Überblick verloren, man verbeißt sich eher in seinen Standpunkt", sagt Psychotherapeutin Brigitte Holzinger. "Man ist sehr in der eigenen Gedankenwelt gefangen. Die Empathie und die Fähigkeit, jemanden anderen zu verstehen und sich in ihn hineinzudenken, ist geringer." Wer hingegen ausgeschlafen ist, ist gedanklich flexibler: "Die besseren Entscheidungen werden ausgeschlafen am Morgen getroffen. Man ist souveräner, nicht so stark seinen eigenen Emotionen ausgeliefert und kann freiere Entscheidungen treffen", betont Holzinger.

Müde Köpfe einigen sich schlechter
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4,5 Stunden Schlaf seien in Ausnahmefällen das Minimum, "besser sind zumindest sechs Stunden". Wobei Holzinger "trotz aller individuellen Unterschiede" für eine durchschnittliche Schlafdauer von 7,5 Stunden für Männer und 8,5 Stunden für Frauen plädiert – etwas, was die wenigsten erreichen.

Weniger Konsens

"Schlafmangel, noch dazu in Kombination mit langem Sitzen, beeinträchtigt in langen Verhandlungen das kreative und konzeptionelle Denken", sagt der Lungenfacharzt und Schlafmediziner Arschang Valipour. "Das Urteilsvermögen verlangsamt und verschlechtert sich. Und auch die Konsensfähigkeit und Kompromissbereitschaft leiden darunter deutlich." Die von Politikern geforderte Kompetenz zur Problemlösung sinkt deutlich.

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Eine Nacht nicht zu schlafen beeinträchtige die Reaktionsfähigkeit in ähnlichem Ausmaß wie eine Alkoholisierung – "und das erhöht in übertragenem Sinn auch in Verhandlungen die Unfallgefahr." Die Folgen für Geist und Psyche stehen in direktem Zusammenhang mit den Auswirkungen auf den Körper: "Bereits eine Nacht ohne Schlaf wirkt sich auf das Herz-Kreislaufsystem und den Stoffwechsel negativ aus", betont Valipour: "So kann der Blutzuckerspiegel auf das Niveau eines Diabetikers ansteigen." Bei Menschen mit einer Herzkrankheit steigt das Risiko für einen Herzinfarkt." Und ebenfalls bereits nach einer schlaflosen Nacht steigen die Spiegel jener Hormone, die Fettleibigkeit begünstigen – und die Konzentration der Sättigungshormone sinkt.

Resümee von Psychotherapeutin Holzinger: "Wer weiß, wo wir heute schon stehen würden, wenn Politiker bei ihren Entscheidungen immer ausgeschlafen wären."

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Mediziner werden nicht müde, die Wichtigkeit des Acht-Stunden-Schlafs zu betonen – bei vielen Spitzenpolitikern und Managern dürfte diese Botschaft allerdings noch nicht angekommen sein. So rühmte sich Donald Trump während des Wahlkampfs vor einem Jahr damit, mit vier Stunden Schlaf auszukommen. Unternehmer Richard Branson steht täglich um 5 Uhr auf und holt den fehlenden Schlaf auf Langstreckenflügen nach. Angela Merkel ist dieser Tage wahrscheinlich froh, wenn sie überhaupt ins Bett kommt; doch auch in verhandlungsfreien Zeiten schläft die Kanzlerin laut Medienberichten selten mehr als fünf Stunden.

Müde Köpfe einigen sich schlechter
TOPSHOT - German Chancellor Angela Merkel looks on during a session at the Bundestag lower house of Parliament, on November 21, 2017 in Berlin. / AFP PHOTO / Odd ANDERSEN
Wer denkt, konstanter Schlafmangel in den Spitzenetagen sei eine Erscheinung unserer Zeit, irrt: Schon Napoleon Bonaparte oder Thomas Edison waren dafür bekannt, die Nächte großteils wach zu verbringen. Das sonderbare Schlafverhalten des genialen Erfinders Nikola Tesla führte soweit, dass er mit 25 einen Zusammenbruch erlitt. Winston Churchill ging selten vor drei Uhr nachts ins Bett, setzte dafür aber auf einen Mittagsschlaf (neudeutsch: „Powernap“), wie er schriftlich festhielt: „Zwischen Mittagessen und Abendessen muss man schlafen, und zwar keine halben Sachen. Ziehen Sie Ihre Kleider aus und legen Sie sich ins Bett. Als der Krieg anfing, musste ich am Tag schlafen, weil das die einzige Möglichkeit war, meiner Verantwortung nachzukommen.“
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The Huffington Post's co-founder Ariana Huffington poses as she arrives to present a Glamour Magazine Woman of the Year award in New York November 8, 2010. REUTERS/Lucas Jackson/File Photo

Schlaf-Advokatin

Seit einigen Jahren ist eine Trendwende im Gange. Als Galionsfigur entpuppte sich Arianna Huffington – ausgerechnet. Nach regelmäßigen 18-Stunden-Tagen mit teilweise nur drei Stunden Schlaf brach die Gründerin der Huffington Post 2007 in ihrem Arbeitszimmer zusammen und beschloss, ihr Leben grundlegend zu ändern. Ihr Bestseller „Thrive“ geriet zu einem dringlichen Appell an die hetzende Leistungsgesellschaft: Huffington plädiert für einen Acht-Stunden-Schlaf, bewussten Umgang mit Smartphones und Ruheräume in Unternehmen.

„Ich habe den Fußgänger zu spät gesehen.“ Diese verlangsamte Reaktionsfähigkeit übermüdeter Autofahrer konnten israelische Wissenschafter jetzt bis auf die Ebene einzelner Nervenzellen nachweisen. Itzhak Fried von der Universität Tel Aviv wollte eigentlich bei zwölf bewusst übermüdeten Epilepsie-Patienten jene Zentren im Gehirn untersuchen, die einen Anfall auslösen. Dabei zeigte sich, dass Müdigkeit in bestimmten Hirnarealen auch eine Auswirkung auf die Schnelligkeit einzelner Nervenzellen hat.

„Körperliche Müdigkeit raubt den Neuronen die Fähigkeit, korrekt zu arbeiten“, erklärt Itzhak Fried im Fachblatt Nature Magazine.

Speziell die Nervenzellen im Schläfenlappen reagieren bei zunehmender Ermüdung langsamer und geben ihre Signale an andere Neuronen langsamer – und auch schwächer – weiter. „Der Autolenker sieht den Fußgänger später, weil das Gehirn länger dafür braucht, das, was es wahrnimmt, tatsächlich zu registrieren.“ Die Aufmerksamkeitsmängel und kurzfristigen geistigen Aussetzer entstehen, indem bestimmte Gehirnregionen dösen, während der Rest des Gehirns ganz normal aktiv ist.

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