"Stoßen an Kapazitätsgrenzen"

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Bis 2030 könnte sich die Patientenzahl verdoppeln. Schon jetzt sind Ressourcen knapp.

Time is brain – Zeit ist Gehirn(-funktion): „Treten Schlaganfall-Symptome wie etwa eine akute Halbseitenlähmung oder Sprachstörung auf, zählt jede Minute“, sagt Univ.-Doz. Elisabeth Fertl, Leiterin der Neurologie in der Wiener Rudolfstiftung und Vorstandsmitglied der Österr. Gesellschaft für Neurologie (ÖGN). „50 Prozent der Betroffenen können in Österreich – wenn sie sofort die Rettung 144 rufen – innerhalb von 90 Minuten versorgt werden.“ Die hohe Qualität der Versorgung ist aber in Gefahr: „Bis 2030 wird die Zahl der Schlaganfälle stark steigen, möglicherweise sich sogar verdoppeln.“

KURIER: Ist Österreich für die steigende Zahl von Schlaganfällen nicht gerüstet?

Für die Akutversorgung haben wir im Großteil Österreichs ein international vorbildliches Netzwerk an Schlaganfall-Einheiten – Stroke Units . Doch es gibt Lücken: In Vorarlberg – dort ist eine Stroke Unit aber im Aufbau –, Westtirol, dem Burgenland und vor allem in Wien. Die Gesellschaft für Neurologie hat klar festgestellt, dass in Wien ein bis zwei Stroke Units fehlen. Schon derzeit können hier nicht alle Schlaganfall-Patienten auf einer solchen versorgt werden. Jedes Schwerpunktkrankenhaus, das neu errichtet wird, sollte über eine derartige Einheit verfügen – insbesondere das neue Krankenhaus Nord in Wien. Derzeit sehen die Planungen aber keine Stroke Unit vor. Egal, wie alt ein Patient ist, welche Vorerkrankungen er hat und welche Therapie er bekommt: Studien zeigen, dass auf einer Stroke Unit der Patient immer profitiert und es dort zu weniger Behinderungen und weniger Todesfällen als auf nicht-spezialisierten Stationen kommt (siehe unten).

Der Engpass bei den Ressourcen wird also größer?

Bereits in den vergangenen Jahren ist das Durchschnittsalter der Patienten, die in Österreich auf einer Stroke Unit aufgenommen werden, angestiegen (siehe Grafik). Dadurch haben sie aber auch mehr Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Herzkrankheiten. Außerdem steigt die Zahl der Patienten, die bereits ihren zweiten Schlaganfall durchmachen. Das sind aber häufig auch schwerere Fälle. Hier werden wir mehr Ressourcen brauchen, um diese steigende Zahl an sehr kranken Patienten optimal behandeln zu können: Nicht nur Neurologen, auch mehr Kapazitäten bei Kardiologen, Neurochirurgen, Radiologen und therapeutischen Berufen wie Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie.

Können Sie den zusätzlichen Bedarf beziffern?

Ein Patient ist im Schnitt drei Tage auf einer Stroke Unit. Bei 33.000 Patienten mit der Entlassungsdiagnose Schlaganfall im Jahr 2009 macht das 100.000 Pflegetage. Bei prognostizierten zumindest 50.000 Patienten im Jahr 2030 sind das 150.000 Pflegetage. Da wir schon jetzt an unsere Kapazitätsgrenzen stoßen brauchen wir zumindest eine um ein Drittel höhere Bettenkapazität. Darüber hinaus fehlen aber in den Spitälern auch B-Betten für die an die Akutphase anschließende Intensivrehabilitation der schwer kranken Schlaganfallpatienten.

Verbessert sich die Therapie?

18 Prozent der Patienten mit einer unterbrochenen Blutversorgung im Gehirn bekommen in Österreich über die Venen ein Medikament, das das Blutgerinnsel auflöst. Dieser Wert wird international sonst nirgendwo erreicht. Diese Therapie ist nur in den maximal ersten 4,5 Stunden nach Beginn der Symptome möglich. Noch wirkungsvollere Medikamente sind in Entwicklung. Gerinnsel, die größer als acht Millimeter sind, können aber nicht aufgelöst werden. Hier gibt es jetzt als Projekt in den meisten Landeshauptstädten den Einsatz von modernen Kathetersystemen: Ein dünner Kunststoffschlauch wird über die Leistenarterie bis in das verstopfte Hirngefäß vorgeschoben. Dann wird unter Röntgenkontrolle ein kleiner Maschendraht ausgefahren, über den Blutpfropfen gestülpt und mit diesem herausgezogen. Erste Daten zeigen, dass damit 80 Prozent der verschlossenen Gefäße geöffnet werden können.

Muss man auch die Rettung rufen, wenn Schlaganfallsymptome nur kurz auftreten?

Ja, jede dieser TIAs (Transitorische ischämische Attacke) ist ein Notfall, ein Vorbote eines Schlaganfalls und gehört so schnell wie möglich untersucht. Ohne Abklärung hat jeder Fünfte in den Wochen danach einen Schlaganfall.

Welchen Einfluss hat der Lebensstil auf das Schlaganfallrisiko?

79 % der Patienten auf den Stroke Units haben Bluthochdruck. Alleine die Senkung des ersten Blutdruckwertes um 20mmHg reduzier das Schlaganfallrisiko um etwa 50 %, jedes Kilo weniger Übergewicht vermindert das Risiko ebenfalls. Wir benötigen mehr Aufklärungsarbeit. An den wichtigsten Risikofaktoren (siehe Grafik) kann einerseits durch Medikamente, andererseits durch Eigeninitiative – besonders Gewichtsabnahme – gedreht werden. Und je mehr die Politik in Prävention investiert, umso weniger schwere Schlaganfälle werden wir auf den Stroke Units sehen.

"Stoßen an Kapazitätsgrenzen"

Eine „Stroke Unit“ ist eine spezielle Schlaganfall-Überwachungsstation mit mindestens vier Betten. Pro Bett gibt es eine spezialisierte Pflegekraft. Rund um die Uhr ist ein Neurologe anwesend, aber auch andere Spezialisten (z. B. Kardiologie, Neurochirurg, Physiotherapeut, Logopäde, Ergotherapeut) sowie bildgebende Verfahren zur Untersuchung der Hirngefäße sind verfügbar. Eine solche Station kann auf mehreren Wegen Todesfälle und Behinderung verhindern:

Durch das Eröffnen verschlossener Gefäße (s. oben).

Durch kontinuierliche Überwachung (Monitoring) von Vitalparametern wie Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, Sauerstoffsättigung des Blutes, Herzfrequenz.

Durch das Erkennen und die Frühtherapie von Komplikationen wie Lungenentzündung, Harnwegsinfekt, epileptischer Anfall.

Univ-Doz. Elisabeth Fertl: „Eine Stroke Unit ist nicht nur eine Infrastruktur, sondern auch ein Behandlungspaket. Auch wenn das Gerinnsel nicht mehr aufgelöst werden kann, profitiert der Patient von den anderen Maßnahmen wie der Überwachung.“

Fachärzte

In Österreich gibt es derzeit 516 Fachärzte für Neurologie, 432 Fachärzte für Neurologie & Psychiatrie sowie 615 Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie (bei diesen ist Psychiatrie das Hauptfach, seit ca. zehn Jahren gibt es aber keine neuen Fachärzte mit Doppelfach).

Gesellschaft

Die „Österreichische Gesellschaft für Neurologie“ (ÖGN) ist die Dachorganisation der heimischen Neurologen. Auf ihrer Homepage www.oegn.at gibt es für Patienten zahlreiche fundierte Informationen über verschiedene neurologische Erkrankungen – von Demenz und Epilepsie über Migräne, Multiple Sklerose bis zu Parkinson und Schlaganfall. Gleichzeitig werden auch mögliche Ursachen verschiedener Symptome ausführlich erklärt – etwa Bewegungsstörungen, Gangunsicherheit, Gefühlsstörungen,

Lähmung, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen oder Schwindel und Stürze.

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