Richard David Precht: "Die Wahrscheinlichkeit des Untergangs ist groß"
Gerne wird er als Popstar der Philosophie bezeichnet, als einer, der aneckt. Im Gespräch skizziert Richard David Precht die Themen, die ihn besonders bewegen – und teilweise Bestandteil seines aktualisierten Buchs sind.
KURIER: Mit Ihrer Meinung, dass manche Medien sogar die Demokratie gefährden, haben Sie für Aufregung gesorgt, die bis heute anhält. Haben Sie sich mit den Medien versöhnt?
Richard David Precht: Ich habe mich mit den Medien nie gestritten, ich habe sie sogar in Schutz genommen vor den Vorwürfen der Hofberichterstattung und erklärt, dass Medien die mächtigeren Akteure als die Politiker sind.
Das haben viele anders verstanden. Offenbar. Die Medien sind überhaupt nicht gut darin, mit Kritik umzugehen oder gar Selbstkritik zu üben. Es ist halt auch nicht ihre gewohnte Rolle, Medien schauen anderen auf die Finger. Das hat sich in der Reaktion auf diese Debatte sehr deutlich gezeigt.
Das wird sicher auch nicht bei allen auf Verständnis stoßen. Muss man anecken, um gehört zu werden?
Precht: Ich ecke nicht mit Absicht an, sondern ich sage, was ich denke. Als öffentlicher Intellektueller muss ich den Medien nicht gefallen, ich bin ja kein Politiker.
Was ist dann Ihre wahre Kritik? Und was ist richtigzustellen?
Precht: Ich gehöre zu den Fans des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und bin der Meinung, dass wir gute Leitmedien haben. Viele Länder haben das nicht. Früher gab es aber linke und rechte Leitmedien, daher eine Meinungsvielfalt. Das ist heute nicht mehr so. Die Medien haben sich enorm aneinander angeglichen, versammeln sich in einer gefühlten Mitte. Nun gibt es aber Menschen, die sich durchaus der Mitte der Gesellschaft zugehörig fühlen, aber Meinungen haben, die der medialen Definition zufolge den Rändern zuzuordnen ist. Das ist eine gefährliche Entwicklung, weil die Menschen dann den Leitmedien das Vertrauen entziehen.
Ist das aber nicht vielmehr eine Entwicklung der Gesellschaft als eine der Medien? Die Spaltung der Gesellschaft ist zu beobachten.
Precht: Das Links-rechts-Spektrum verwäscht sich zusehends. Einen linken Rand haben wir kaum noch und für mich sind die Grünen auch keine linke Partei mehr.
Sondern?
Precht: Ich bin links sozialisiert, ich habe die Geschichte der Linken mit der Muttermilch eingesogen. Also zum Beispiel, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben sollen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Hautfarbe. Macht man diese Kriterien allerdings zu den entscheidenden, dann begibt man sich ins Fahrwasser rechten Gedankenguts, wenn auch unter genau umgekehrten Vorzeichen. Zudem war es immer eine feste Position der Linken, den Pazifismus auf ihrer Seite zu haben. Wenn es heute aber um die Frage geht, die Konflikte der Welt mit Waffen zu lösen, gibt es keine Partei in Deutschland, deren Wähler so entschieden dafür sind, wie bei den Grünen. Man kann also sagen, die Grünen sind die Partei jener Leute geworden, gegen die sie einstmals gegründet worden sind.
Was meinen Sie: War das eine bewusste Entscheidung, oder ist das auf dem Weg passiert?
Precht: Das war eine schleichende Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte und wurde unter der jetzigen Führung nochmals mit einem Turbo vorangetrieben. Das sind nun neue Werte, und deshalb dürften sich die Grünen dadurch auch nicht beleidigt fühlen.
Sie sprachen davon, dass der linke Rand verschwindet. Der rechte wird dafür aber immer stärker.
Precht: Ja, sichtbar, in ganz Europa. Und weil sich AfD-Wähler in den Leitmedien nicht gehört und bekämpft fühlen, organisieren sie sich in den sozialen Medien, weil sie das als ihre Möglichkeit sehen, gehört zu werden. Sie sind dort ganz massiv vertreten, dominieren die sozialen Medien oft.
Wenn Sie sich mit Ihrer linken Welthaltung nicht mehr wiederfinden, wen wählen Sie denn dann?
Precht: Dazu äußere ich mich nicht. Das, was ich denke, passt ohnehin in kein Parteibuch.
Welche Werte sind Ihrer Ansicht nach die derzeit wichtigsten in der Gesellschaft?
Precht: Das Überleben der Menschheit. Die Wahrscheinlichkeit des Untergangs ist leider sehr groß. Schuld daran sind in erster Linie die Wohlstandsländer, je reicher das Land, desto größer der ökologische Fußabdruck. Da gehören auch Deutschland und Österreich zu den Schuldigen, gemessen an der Bevölkerungszahl. Wir brauchen eine globale Umweltpolitik, das ist die ganz große Agenda. Außerdem Friedens- und Kriegspräventionspolitik, ohne das ist das Miteinander in Umweltfragen nicht möglich.
Nun haben wir bei Corona gesehen: Die Pandemie hat alle Länder zur Zusammenarbeit gezwungen. Braucht es Katastrophen, um das zu erreichen?
Precht: Womöglich, das ist das Schlimme. Und noch schlimmer: Wir brauchen die Katastrophen bei uns, denn jeden Tag finden solche statt aber nach ein paar Tagen sind wir wieder bei der Tagesordnung. Das ist zynisch, aber wahr.
Gibt es denn nicht auch abseits davon eine Möglichkeit, die Staaten unter einem Dach zu vereinen, um einer gemeinsamen Lösung näherzukommen?
Precht: Wir haben das Problem, dass die Klima-Entwicklung bis vor einigen Jahren noch sehr ernst genommen wurde, im Augenblick aber überhaupt kein Thema mehr ist. In der Gemengelage der Bevölkerung trifft es keinen Nerv, die Leute sind mit völlig anderen Dingen beschäftigt. Im Zeitalter von Pandemie und Krieg geht es anderes, auch die Teuerung hat die Leute verunsichert. Industrieländer stehen zudem vor der Frage: Werden wir noch Wohlstandswachstum haben? Da ist fürs Klima kein Raum mehr. Die Antwort darauf ist deshalb leider: Wir schaffen es nicht!
Warum?
Precht: Weil wir diese Menge an Kummer nicht gewöhnt sind. Ich bin oft in Afrika, dort leben die Menschen mit Krankheiten, die in ihren Auswirkungen viel massiver sind als wir uns vorstellen können. Wir haben so lange auf einer Insel der Seligen gewohnt und sind so sehr damit beschäftigt, uns zu entfalten, in einer Sinngesellschaft zu leben, dass wir nicht die Resilienz haben, mit Katastrophen umzugehen. Wir sind psychisch sehr schlecht gerüstet.
Nun passierten gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche "Once in a lifetime"-Ereignisse. Wächst nicht damit die Resilienz?
Precht: Was das Klima betrifft, werden wir uns wohl an die Katastrophe gewöhnen. Denn wir gewöhnen uns ja schon länger an Hiobsbotschaften. Dieser Gedanke war mir vor fünf Jahren noch fern. Gefährlich wird es auch bei den jungen Generationen, wenn sie sich unweigerlich mit dem Gedanken befassen müssen, eine der letzten Generationen der Menschheit zu sein. Seit den 1990ern wissen wir sehr genau um den Klimawandel, aber seither, in den drei Jahrzehnten, haben wir so viel CO2 in die Luft geblasen, wie in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Und kein regierender Politiker macht sich hier ehrlich. Denn er würde dann nicht mehr gewählt werden. Viele haben schon innerlich resigniert.
Eine dystopische Ansicht ...
Precht: Man darf sich nicht in die Tasche lügen. Aber um das Schöne zu unterstreichen: Viele können sich heute überlegen, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Davon hat die Menschheit immer geträumt. Das Problem: Je individualisierter diese Leben werden, desto weniger Gemeinschaft findet statt. Man ist entwöhnt, sich an Spielregeln zu halten. Konflikt ist auch, dass wir damit rechnen müssen, dass sich unsere wirtschaftliche Lage dauerhaft verschlechtern könnte. In dem Moment, wo wir an Wohlstand und Freizeit dem Paradies am nächsten sind, kippt alles. Das könnte zu enormen Frustrationen führen, und zu trotzigem politischen Verhalten.
Wird dadurch der Zulauf zum rechten Rand stärker?
Precht: Ja, das könnte sein, besonders bei den jungen Wählern.
Was sind die Lösungsvorschläge?
Precht: Wir müssen uns im Hinblick auf die Weltlage ehrlicher machen, und die Politiker dürfen nicht länger nur Gutes versprechen. Das ruiniert ihre Glaubwürdigkeit. Zudem plädiere ich schon länger für zwei soziale Pflichtjahre – eines nach der Schule und eines beim Eintritt ins Pensionsalter. Eine Sinngesellschaft braucht Pflichten, das klingt nach einem Widerspruch, aber Individualisierung braucht einen Rahmen.
Ihr Buch "Wer bin ich" ist als Graphic Novel erschienen?
Precht: Ja, der Künstler Jörg Hartmann hat das ganz großartig gemacht.
Und das Buch ist inzwischen von Ihnen überarbeitet worden. Was erwartet die Leser?
Precht: Ich habe das gesamte Buch aktualisiert und an aktuelle Forschungsstände angepasst. Zudem gibt es neue Themenkomplexe wie das Klima, die Arbeit und die Künstliche Intelligenz.
Über Klima haben wir gesprochen. Zur Künstlichen Intelligenz: Was darf sie?
Precht: Keine Entscheidungen treffen, die menschliche Lebensschicksale betreffen. Zum Beispiel ob ein Verurteilter begnadigt werden soll. Oder etwa bei Waffensystemen.
Was ist mit den Informationen, die nicht gesichert sind?
Precht: Das kann sehr gefährlich werden, zu Börsenabstürzen führen, systemisch vieles lahmlegen. Davor kann sich eine Gesellschaft nicht schützen, denn wie sähen die Gesetze aus? Die Schlacht können wir nicht schlagen. Wichtig ist, dass wir moralische Entscheidungen nicht die KI fällen lassen, das muss eine international verbindliche Grenze sein.
Wenn es bei der Klimapolitik keinen Konsens gibt, wie kann es dann bei der KI der Fall sein?
Precht: Das fällt bei der KI leichter, denn welches starke wirtschaftliche Interesse ist notwendig an moralische Entscheidungen durch KI geknüpft? Ich sehe keines.
Richard David Precht / Martin Möller, Jörg Hartmann: "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?"
erschienen im Goldmann Verlag
108 Seiten
ca. 30 Euro
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