Flugzeugabsturz: Wie geht es für die Angehörigen weiter?

Barbara Juen vom Kriseninterventionsteam des Roten Kreuz im Interview.

Beim Flugzeugabsturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen kamen 150 Menschen ums Leben. Sie hinterlassen Angehörige, die in den ersten Stunden und Tagen nach dem Unglück die schlimmste Phase der Trauer und Ungewissheit durchlaufen. Der KURIER sprach mit der Psychologin Barbara Juen, Leiterin der psychosozialen Dienste beim Roten Kreuz und seit zehn Jahren in der Krisenintervention tätig, unter anderem beim Unglück in Kaprun sowie dem Tsunami in Thailand.

KURIER: Was sind nach einem Flugzeugabsturz in Bezug auf Angehörige die ersten Schritte?

Flugzeugabsturz: Wie geht es für die Angehörigen weiter?
Barbara Juen: Der allererste Schritt bei einem solchen Ereignis ist, ein Betroffeneninformationszentrum zu errichten, zu dem Angehörige kommen können, und ein Callcenter zu öffnen, bei dem sie sich melden können. Wichtig ist, dass die Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams ausreichend Informationen haben und gut gebrieft sind, also am Stand des Wissens im Moment. In der Arbeit mit den Angehörigen geht es primär darum, Sicherheit herzustellen, einen Ort zu schaffen, wo sie sich wohlfühlen, sie von der Presse abzuschirmen, sie mit Essen und Trinken zu versorgen und Kindern etwas zu spielen zu geben. Auch Zugang zu Fernsehen und Internet ist wichtig, wobei immer jemand vom Kriseninterventionsteam dabei sein sollte, um Angehörigen zu erklären, was bestimmte Informationen bedeuten. Zentral ist, Vertrauen herzustellen und gesicherte Informationen weiterzugeben.

Welche Rolle spielen Informationen, um Schreckensfantasien aufzulösen?

Ehrliche Information ist in den ersten Stunden und Tagen das wichtigste. Der Laie stellt sich oft vor, dass in dieser Zeit tröstende Worte gesprochen werden. Darum geht es aber nicht, sondern vielmehr darum, einen ehrlichen Ansprechpartner zu haben. Angehörige haben meist drei Fragen im Kopf: Was ist passiert? Wie ist es passiert? Was ist mit dem Angehörigen los, hat er leiden müssen? Vor allem zur letzten Frage stellen sich Schreckensfantasien ein, wenn man nicht mit Informationen versorgt ist. Wenn es z.B. nicht möglich ist, den Leichnam eines Angehörigen zu sehen, man Informationen nicht hat oder einen anderen Wunsch nicht erfüllen kann, muss das gut erklärt werden.

Wie wichtig ist es, bei tödlichen Unglücken den Leichnam zu sehen?

Für die Angehörigen geht es darum, Gewissheit zu haben, dass ihre Lieben tatsächlich dabei waren. Bei den meisten Flugzeugabstürzen ist ein Abschied vom Leichnam aber nicht möglich. Dann ist es wichtig, die Prozedur der Identifizierung gut zu erklären, damit Vertrauen aufgebaut wird, dass die Identifizierung der Leichen sicher ist. Viele fürchten, dass ein Fehler passiert ist. Deshalb ist es auch wichtig, Angehörigen zu zeigen, dass ein Betroffener eingecheckt hat, dass er beim Boarding dabei war. Aber nur, wenn die Personen das selbst wissen wollen. Wir lassen uns in der Krisenintervention von den Fragen der Angehörigen leiten.

Wie kann man die Frage „Hat er oder sie leiden müssen?“ beantworten?

Viele Angehörigen schauen sich – wenn das möglich ist – den Leichnam an und wenn der Gesichtsausdruck friedlich ist, ist das für viele sehr hilfreich. Wenn das nicht möglich ist, werden andere Indikatoren herangezogen. Etwa, wie viel Zeit verging beim Flugzeugabsturz? Hatten die Beteiligten Angst? Da kann man die Fantasie fast nicht vermeiden, weil man über diese Informationen meist sehr wenig weiß. In der Betreuung der Personen ist es sehr wichtig, keine tröstenden Geschichten zu erzählen, etwa dass es ganz schnell gegangen ist und alle sofort tot waren, wenn man das nicht weiß. Falsche Aussagen trösten nicht. Wichtig ist, auf der Faktenebene zu bleiben. Gerade am Anfang gibt es viele Ungewissheiten, die die Fantasie der Angehörigen anregen. Man kann in der Krisenintervention nur die Fragen beantworten, wo man die Antwort weiß. Das ist auch für die Helfer die schlimmste Zeit.

Was können Freunde und Verwandte von Angehörigen in dieser Phase machen?

Man muss wissen, dass es keine tröstenden Worte gibt. Das ist ein Fehler, der häufig gemacht wird. Man kann aber dasselbe machen, was Kriseninterventionshelfer machen: dabei bleiben, zuhören, aushalten. Pragmatisch handeln, d.h. gemeinsam mit dem Angehörigen zu überlegen, was erledigt werden muss, etwa dem Arbeitgeber Bescheid geben, dass man nicht kommen kann, zu überlegen, ob die Kinder in den Kindergarten sollen etc. Es geht darum, die Angehörigen zu begleiten, ihnen nicht alles abzunehmen, aber gemeinsam zu schauen, wie man die nächsten Tage und Stunden überlebt.

Was passiert in dieser Zeit körperlich?

Die psychische Reaktion ist die sogenannte Dissoziation, d.h. die Zeitwahrnehmung ist verändert, es kommt einem alles wahnsinnig lang oder kurz vor. Man hat Erinnerungslücken, kann sich schlecht konzentrieren, alles kommt einem fremd vor und man sieht sich oft von außen. Für viele ist das befremdlich, es schützt uns aber vor der Vielzahl an Emotionen, die in der Situation aufbricht. Viele denken in dieser Phase nicht an Essen und Trinken, schlafen nicht, weil sie ständig auf eine Nachricht warten. Außenstehende müssen darauf schauen, dass vor allem getrunken wird und wenigstens eine Suppe gegessen und ein bisschen geschlafen wird. Bei Kindern ist es einfacher, sie spielen und bleiben nicht ständig in der Trauer wie Erwachsene. Was typisch ist, ist der ständige Wechsel heftiger Reaktionen: Von Hoffnung zu Verzweiflung.

An Bord waren auch viele Schüler. Inwiefern unterscheidet sich die Trauerarbeit, wenn ein Kind verloren wurde?

Wenn Eltern ein Kind verlieren oder vermissen, sind alle Reaktionen heftiger, auch die Umgebung reagiert viel heftiger. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es bei Bezugspersonen von Kindern viel wichtiger ist, schnell zu erfahren, wo es ist und es noch einmal zu sehen. Bei toten Kindern haben Eltern oft das Gefühl, sie lassen es im Stich. Manche tröstet es, wenn bereits andere Angehörige verstorben sind und sie sich sagen, diese Person kümmert sich jetzt um das Kind. Für viele wird der Glaube wichtiger, weil sie das Kind sozusagen Gott anvertrauen, auch Rituale werden wichtig, etwa dem Kind etwas mitzugeben. Das ist aber schon einige Schritte nach der aktuellen Krisenintervention. Eine häufige Frage, die sich viele stellen ist auch: Habe ich das Kind im Stich gelassen? Hätte man etwas anders machen können?

Wie wichtig ist der Kontakt zu anderen Angehörigen?

Wenn Betroffene dasselbe Ereignis eint, dann ist ein Zusammenkommen für viele wichtig. Dafür muss es Anlaufzentren geben, die auch länger da sind, als in den ersten Tagen nach dem Unglück. Manche halten das allerdings nicht aus, für sie ist wichtig, eine Einzelbetreuung zu bekommen. Auch in der Zeit nach dem Unglück sollte es z.B. telefonisch und per Internet Anlaufstellen geben. Nach dem Flugzeugabsturz in der Ukraine wurde z.B. eine Website gegründet, die die wichtigsten Fragen beantwortet, etwa wie reagieren Kinder auf einen Verlust? Gibt es Treffen der Angehörigen in der Region? Die Qualität der Betreuung liegt in der Kontinuität.

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