Hasspostings: Die Kraft der Gegenrede

Timothy Garton Ash
Rede frei und dagegen: Der britische Historiker Timothy Garton Ash setzt auf "robuste Zivilität".

Wer gute Nachbarn haben will, sollte den Kontakt zu ihnen pflegen. Keine einfache Sache in einer Welt, wo verschiedene Kulturen und Religionen aufeinanderprallen und es fast mehr Smartphones als Bewohner gibt. Sich jeder immer und überall mitteilen kann. "Kosmopolis" nennt Timothy Garton Ash diese Welt, in der wir alle Nachbarn geworden sind.

"Wir sollten auf schlimme Meinungsäußerungen mit mehr und besseren Meinungsäußerungen oder kurz gesagt mit Gegenrede reagieren."

Ash ist kein Social-Media-Experte, sondern Historiker. Er lehrt in Oxford und Stanford und sieht sich als "engagierter Beobachter". Zuletzt beobachtete er, wie Menschen in sozialen Medien kommunizieren. Wie Sprache verroht. Todesdrohungen auf Facebook, rassistische und sexistische Meldungen auf Twitter und ihre Folgen sind Alltag. "Das Internet ist die größte Kloake der Menschheit, voller Obszönitäten und Beschimpfungen", erklärte er bei einem Vortrag im Wien Museum.

Aber wie mit diesem Hass umgehen? Ash ist nicht für Verbote, sondern für Gebote. Die stehen in seinem neuen Buch "Redefreiheit" (Hanser Verlag). Darin schreibt er etwa von der Kraft der Gegenrede. Seine Formel: "Wir brauchen eine robuste Zivilität. Ich höre Ihnen zu, Sie hören mir zu, ich beleidige Sie nicht unnötigerweise."

Dennoch sollen Unterschiede ausgesprochen werden. Aber bitte höflich. Geht es etwa um Religion, sagt Historiker Ash: "Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt die Glaubensinhalte."

"Redefreiheit ist die Luft einer offenen Gesellschaft, der Lebenssaft einer Demokratie."

Wer sich in Foren umsieht, stößt selten auf respektvollen Umgang. Kommunikationswissenschaftler Jörg Matthes, Vorstand am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaften der Uni Wien, sieht sogar eine Aufwärtsspirale – der Umgangston wird rauer, brutaler. Er kann sich schwer vorstellen, dass sich die schweigende Mehrheit die Mühe macht, mit Hasspostern in Diskurs zu treten: "Warum mit jemandem kommunizieren, der die Grundregeln der Kommunikation verletzt, dafür muss man viel Geduld und Ausdauer aufbringen. Ich behaupte: Den meisten ist die Zeit zu schade." Vor allem aber fehle ihm ein wichtiges Element: die direkte Begegnung. Ohne sie ist es einfacher, alles rauszulassen. "Menschen sind enthemmter, weil sie nichts zu befürchten haben, keine unmittelbare Reaktion vom Gegenüber." Und ohne Begegnung sei es schwierig, Probleme sachlich zu lösen: "Im Zwischenmenschlichen weiß jeder, was er sagen darf, was nicht. Im Internet fehlt das Bewusstsein, viele halten es für einen rechtsfreien Raum."

Apropos Recht. Jenes auf freie Rede ist 227 Jahre alt und wurde 1789 in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich festgeschrieben. Heute wird darum gekämpft, wie frei Rede sein darf. Was ist erlaubt und was geht zu weit? Für Historiker Ash steht fest: "Das Recht zu beleidigen heißt nicht, dass man die Pflicht hat, zu beleidigen. Das Recht, etwas zu sagen, heißt nicht, dass es richtig ist, etwas zu sagen."

Freies Recht sei es auch, Karikaturen drucken zu lassen. So sieht es der Historiker, so sahen es viele andere nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo. "Es geht nicht darum, die Karikaturen gutzuheißen. Es muss möglich sein, jemandem Solidarität zu erweisen, aber zugleich seine Ansichten weiterhin abzulehnen." Solidarität muss von der Zivilgesellschaft, aber auch vom Staat kommen, um jene zu schützen, die für freie Meinungsäußerung ihr Leben riskieren.

"Das Internet verschafft uns die Möglichkeit, unsere eigenen, selbst regierten Online-Communitys zu gründen und grenzübergreifend von Schwarmintelligenz
zu profitieren."

Die Kraft der Gemeinschaft ist auch in den Diskussionen gefragt. Die Community soll selbst Regeln schaffen und deren Einhaltung einfordern. Laut Ash müsste es im Netz heißen: "Wir wollen diese Debatten nach bestimmten Regeln führen. Wenn Ihr euch nicht an diese Regeln halten wollt, geht woandershin." Kommunikationswissenschaftler Matthes bezweifelt wiederum, dass sich die kleine, aber laute Gruppe einfach wegschicken lässt. Für ihn stellt sich eher die Frage, ob nicht jene abziehen, die etwas zu sagen haben. Wer sich differenziert zu Griechenland oder über Flüchtlinge äußert, und beleidigt wird, dreht eher ab. Oder muss befürchten, gleich von mehreren Menschen beschimpft zu werden. Mit Argumenten und Sachlichkeit wird man vor allem die chronischen Hassposter nicht erreichen, sagt Experte Matthes. "Das sind Menschen, die daraus eine Freude ziehen, andere zu beleidigen und den Mistkübel auszuleeren."

"Wir können Meinungsäußerung dazu benutzen, einander aufzustacheln, oder wir können mit ihrer Hilfe unsere Differenzen verhandeln."

Hier sieht er Strafen als probates Mittel, um zu zeigen, was juridisch relevant ist. Zudem befürchtet er einen Ansteckungseffekt: "Andere werden desensibilisiert, steigen in den Reigen der Hassposter ein." Sie überlegen nicht und lassen sich zu etwas hinreißen. Den dahinterliegenden Ursachen müsse man dennoch auf den Grund gehen: Meist ist es der Ärger über einen Zustand, über Haltung oder Politik. Und den findet man auf rechter und linker Seite. "Nur, wenn man sich anschaut, wer regiert und wer in Opposition ist, sieht man schon, dass eine Seite mehr auf negative Emotionen baut", sagt Matthes. Und das höchst erfolgreich. Studien zeigen, dass sich Menschen stark von Gefühlen leiten lassen und sich nicht immer für Fakten interessieren.

Für Timothy Garton Ash stehen wir gerade wieder im 15. Jahrhundert, als der Buchdruck erfunden wurde. Den Umgang mit sozialen Medien müssen wir erst lernen. Und damit die Nachbarschaft gut funktioniert, müssen alle miteinbezogen werden. Auch Regierungen und private Supermächte wie Facebook.

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