Zwanghafter Sex als psychische Störung: "Sicher keine Ausrede"
"Zwanghaftes Sexualverhalten" ist eine psychische Störung: Diese Klassifizierung nimmt die Weltgesundheitsorganisation ( WHO) in ihrem neuen "Katalog der Krankheiten" vor. Univ.-Prof. Reinhard Haller ist Gerichtspsychiater, Suchttherapeut und Autor des Standardwerkes "Nie mehr süchtig sein - das Leben in Balance".
KURIER: Wie beurteilen Sie die Einstufung der WHO von zwanghaftem Sexualverhalten als psychische Störung?
Reinhard Haller: Das finde ich richtig in dieser Form. Es gibt unzweifelhaft einen gewissen Prozentsatz in der Bevölkerung – ich würde ihn mit einem, maximal zwei Prozent beziffern – wo man von einer solchen Störung im Bereich der Sexualität sprechen muss. Das ist auch etwas anderes als ein massiv gesteigertes sexuelles Verlangen. Die Betroffenen empfinden keine wirkliche Lust mehr, sondern sind sehr unglücklich und werden oft depressiv.
Ab wann ist es eine Störung?
Wenn es einen Leidensdruck gibt: Wenn der Betroffene – oder auch sein Partner – darunter massiv leidet, dem Zwang völlig ausgeliefert ist, dadurch in seinem Leben eingeengt ist und mehr und mehr in Isolation gerät und letztlich vereinsamt. Das an einer bestimmten Häufigkeit von Sexualkontakten, Masturbation oder Pornografiekonsum festzumachen, wie das früher geschah, finde ich keinen guten Ansatz. Es geht immer um die Leidensgrenze – die ist entscheidend. Die beste Therapie ist dann innerhalb der Psychotherapieverfahren die Verhaltenstherapie: Mit einer Verhaltensänderung soll man andere Möglichkeiten finden, um mit diesen zwanghaften Impulsen fertig zu werden. Medikamente haben eine gewisse Berechtigung, können das Problem aber nicht lösen.
Die WHO hat eine Einstufung eines solchen Verhaltens als "Sucht" vermieden, sie spricht also nicht von "Sexsucht".
Damit gehe ich konform. Sucht setzt aus meiner Sicht immer ein Rauschverhalten voraus, dass man also durch eine Substanz oder auch eine Verhaltensweise in einen rauschartigen Zustand kommt. Das ist bei der Sexsucht aber in dieser Form nicht möglich. Und man soll den Begriff „Sucht“ nicht inflationär verwenden. Wenn alles eine Sucht ist, wird damit der Tragik des eigentlichen Krankheitsbildes nicht Rechnung getragen. Denn zwischen einer solchen zwanghaften Sexualverhalten und einer Heroinabhängigkeit ist schon ein gewisser Unterschied.
Kann die Einstufung als psychische Störung eine „Entschuldigung“ für sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung sein?
Auf keinen Fall! Schuldunfähigkeit und Zurechnungsunfähigkeit gibt es nur bei außerordentlich schweren psychischen Störungen – das betrifft nur einen kleinen Teil aller psychiatrischen Störungsbilder und nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Eine Ausrede für kriminelles Verhalten ist eine solche psychische Störung im Bereich der zwanghaften Sexualität in der Regel sicher nicht.
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