Rätsel gelöst: Wie MS und Alzheimer sich in Europa verbreitet haben
Es gibt ja immer wieder Tatsachen, die einen verblüfft zurück lassen: Warum etwa sind Dänen und Isländer deutlich größer als Italiener und Ägypter? Weshalb trifft die Multiple Sklerose (MS) Nordeuropäer zweimal so häufig wie Südeuropäer? Und wie kamen Menschen im Osten Europas zu ihrem deutlich erhöhten Risiko für Typ-2-Diabetes und Alzheimer?
Die Antwort liefert jetzt die Fachzeitschrift Nature: Alles importiert – aus der Vergangenheit und der Eurasischen Steppe.
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Um zu verstehen, wie die 175 Forscher aus aller Welt unter der Leitung von Eske Willerslev von den Universitäten Cambridge und Kopenhagen zu ihren Erkenntnissen kamen, braucht es ein bisschen Nachhilfe in Populationsgenetik:
Die Besiedlung Europas durch den anatomisch modernen Menschen erfolgte in drei Hauptwellen: Vor etwa 45.000 Jahren kamen die ersten Jäger und Sammler nach Europa. Teilweise verdrängt wurden sie etwa 34.000 Jahren später von neolithischen Bauern aus dem Nahen Osten. Vor rund 5.000 Jahren begannen dann nomadische Schaf- und Rinderhirten aus der pontisch-kaspischen Steppe, weite Teile Europas zu besiedeln.
Archäologen und Historiker gehen davon aus, dass sich diese Gruppen auf dem gesamten Kontinent vermischten und dass die Bevölkerungen an bestimmten Orten als Reaktion auf ihre lokale Umgebung unterschiedliche Merkmale entwickelten. Das Erbe dieser drei Volksgruppen zeigt sich bis heute zu unterschiedlichen Anteilen in unseren Genen.
Doch als Genetiker Willerslev und sein Team begannen, die Genome der Urmenschen zu untersuchen, stellten sie fest, dass dies nicht die ganze Geschichte war. Die Forscher sammelten und sequenzierten die DNA von 317 in Europa gefundenen antiken Skeletten, von denen die meisten zwischen 3.000 und 11.000 Jahre alt waren. Anschließend kombinierten sie diese Sequenzen mit vorhandenen Genomdaten von mehr als 1.300 anderen alten Eurasiern.
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Durch den Vergleich der genetischen Marker, des Alters und der Bestattungsorte der Überreste waren die Wissenschafter in der Lage, einen europäischen Stammbaum und eine Migrationskarte zu erstellen, aus der hervorgeht, wie sich die genomischen Merkmale an einem bestimmten Ort im Laufe der Zeit verändert haben. So zeigte sich beispielsweise, dass die Steppenhirten hauptsächlich in die nördlicheren Teile Europas zogen, während die Bauern aus dem Nahen Osten in den Süden und Westen zogen.
Einige dieser Migranten verdrängten die bestehenden Populationen vollständig. Dänemark zum Beispiel erlebte zwei große Bevölkerungsübergänge, jeweils innerhalb weniger Generationen. Die archäologische Funde und die Geschwindigkeit des Übergangs darauf hin, dass die Neuankömmlinge alle Einheimischen umbrachten, anstatt sie zu vertreiben oder sich mit ihnen zu vermischen, glaubt zumindest Willerslev. Die Ausbreitungsmuster jedenfalls bedeuten, dass viele moderne Europäer einen Teil ihrer genetischen Vorfahren aus allen drei Bevölkerungswellen in sich tragen, aber der relative Anteil variiert je nach Standort. Woher genau welche Gene stammen und wie sie sich auswirken, war allerdings bisher nur in Ansätzen erforscht.
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Datenbank für alte DNA
Das international Forschungsteam hat nun die bisher größte Datenbank alter menschlicher Genome zusammengestellt. Zum Vergleich bezog das Team zusätzlich moderne Genome in die Analyse ein. So kann nicht nur die Abstammung der heutigen westeurasischen Bevölkerung verfolgt werden, sondern auch der Ursprung vieler heutiger Merkmale – von der Körpergröße bis hin zur Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten.
Beispielsweise fanden die Genetiker heraus, dass die Erbgut-Varianten, die mit einem MS-Risiko verbunden sind, mit dem Volk der Jamnaja „reisten“ – Viehhirten, die über die pontische Steppe (heute Ukraine, Südwestrussland und Westkasachstan) nach Nordwesteuropa wanderten.
Es muss für die Jamnaja ein eindeutiger Vorteil gewesen sein, die Risikogene zu tragen, selbst nachdem sie in Europa angekommen waren, obwohl diese Gene unbestreitbar ihr MS-Risiko erhöhten.
Heute ist Multiple Sklerose eine verheerende Krankheit, die durch ein überaktives Immunsystem verursacht wird, das das Nervensystem angreift. Doch dieses übermächtige Immunsystem könnte den Menschen in der Antike geholfen haben, Seuchen und häufige Krankheitserreger zu überleben, meint Willerslev. „Das ist die beste Erklärung, die uns einfällt.“ Die neuen Erkenntnisse hätten auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die Krankheit behandelt wird.
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Apropos Jamnaja: Sie gelten laut den Studienautoren als die nächsten Verwandten der heutigen Däninnen und Dänen. Das konnte die Forschergruppe mit ihren DNA-Daten in einer weiteren, in der gleichen Nature-Ausgabe veröffentlichten Arbeit belegen. Auch für einen Großteil der heutigen Bewohner in Nordwesteuropa gelten die Viehbauern aus dem Osten als wichtige Vorfahren. Viel geringer ist ihr genetischer Einfluss dagegen auf die Bevölkerung in Südeuropa. Das dürfte auch erklären, warum Nordeuropäer im Durchschnitt größer sind als Südeuropäer.
Außerdem berichten die Wissenschafter, dass sich Genvarianten, die das Risiko von Alzheimer und Typ-2-Diabetes erhöhen, bis auf die frühen Jäger und Sammler zurückverfolgen lassen. Am stärksten ist dieses genetische Erbe heute im Erbgut osteuropäischer Menschen sichtbar.
Gendatenbank geplant
Das Team plant nun, andere neurologische Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer sowie psychiatrische Störungen wie ADHS und Schizophrenie zu untersuchen. Und hat bereits Anfragen von Wissenschaftern aus der ganzen Welt, die Zugang zu den alten DNA-Profilen haben möchten. Mittlerweile plant man, die Genbank schließlich frei zugänglich zu machen.
„Die Lebensweise der Menschen in der eurasischen Region in den vergangenen 10.000 Jahren hat zu einem genetischen Erbe geführt, das sich auf ihre heutigen Nachkommen auswirkt, und zwar sowohl in Bezug auf ihr körperliches Erscheinungsbild als auch auf ihr Risiko, an einer Reihe von Krankheiten zu erkranken“, resümiert Co-Autor Evan Irving-Pease von der Universität Kopenhagen. Und Lluís Quintana-Murci, ein Populationsgenetiker am Institut Pasteur in Paris, der nicht an der Studie beteiligt war, zeigt sich begeistert:
Dies ist eine Meisterleistung.
Seiner Meinung nach liefert die Studie beispiellose Details darüber, wie alte Abstammungen das Krankheitsrisiko bis heute beeinflussen können. „Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie man die Medizin reformieren kann, indem man sich mit sehr grundlegenden anthropologischen und genomischen Fragen beschäftigt“, sagt er.
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