Virologe Krammer: "Europa kriegt das wieder in den Griff"
Die zweite gute Nachricht aus der Impfstoffforschung: Auch der Impfstoff des US-Konzerns Moderna bietet– laut einer ersten Zwischenanalyse – ebenso wie jener von BioNTech / Pfizer einen mehr als 90-prozentigen Schutz vor Covid-19. "Das ist eine sehr positive Nachricht auch für alle anderen Impfstoffkandidaten", sagt der in New York tätige österreichische Virologe Florian Krammer.
KURIER: Hat es Sie überrascht, dass auch dieser Impfstoff solche außerordentlich guten Ergebnisse liefert?
Florian Krammer: Nicht wirklich, weil es zwischen diesen beiden Impfstoffen zwar kleine Unterschiede gibt, sie aber insgesamt sehr ähnlich, nahezu identisch sind. Beide sind sogenannte RNA-Impfstoffe, die nur den genetischen Bauplan für das Oberflächeneiweiß von SARS-CoV-2 enthalten. Zellen produzieren dann dieses Protein, der Körper bildet dagegen Antikörper. Kommt es dann zu einer Infektion mit SARS-CoV-2, erkennt das Immunsystem den Erreger rascher, die Immunreaktion ist stärker. Das zweite sehr gute Zwischenergebnis eines RNA-Impfstoffes ist eine sehr positive Nachricht für diese neue Technologie der RNA-Impfstoffe, aber auch für alle anderen Impfstoffkandidaten: Die allermeisten sind ja darauf ausgelegt, neutralisierende (vor einer Erkrankung schützende, Anm.) Antikörper, Abwehrstoffe, zu bilden. Und das scheint mit den RNA-Impfstoffen zu funktionieren und das wird auch bei den anderen der Fall sein. Wie stark asymptomatische Ansteckungen verhindert werden, wissen wir zwar noch nicht – persönlich rechne ich aber damit, dass sie zumindest reduziert werden.
Diese RNA-Impfstoffe wurden jetzt innerhalb eines knappen Jahres entwickelt. Wie ist das in der Geschwindigkeit möglich?
Es waren ja schon vor SARS-CoV-2 andere Impfstoffe mit dieser Technologie in Entwicklung. Den Prozess kannte man also bereits im Großen und Ganzen. Und es ist egal, um welchen Erreger es sich handelt: Man nimmt immer einen Teil des genetischen Materials eines Virus. Auch wenn die Information, die diese RNA trägt, jeweils eine andere ist, ist es immer der gleiche Prozess. Entwickelt man hingegen einen Impfstoff, bei dem das Oberflächenprotein eines Virus direkt hergestellt wird, muss der Herstellungsprozess dieses Proteins jedes Mal neu designt werden. Deshalb ging die Entwicklung der RNA-Impfstoffe so rasch.
Ist es realistisch, dass noch heuer geimpft wird?
Pfizer hat angekündigt, in den USA noch im November um eine Notfallszulassung anzusuchen. Zumindest in den USA könnten im Dezember geringe Mengen an Impfstoff zur Verfügung stehen. In Europa ist das vom Zulassungsprozess her schwerer abzuschätzen. Vielleicht werden auch hier im Dezember, aber auf jeden Fall im ersten Quartal 2021 erste Impfstoffdosen verfügbar sein, zuerst wahrscheinlich eher für Hochrisikogruppen, erst nach und nach für mehr Teile der Bevölkerung – wenn die Menschen das wollen.
Wegen der Impfskepsis?
Umfragen zeigen zwar, dass sie rückläufig ist, aber es wird eine offene Wissenschaftsdiskussion geben müssen, in der sehr genau erklärt wird, wie die Sicherheit der Impfstoffe geprüft wurde, ob es Risiken gibt, etc. Ist ein Impfstoff zugelassen, ist er umfassend auf Wirksamkeit und Sicherheit geprüft. Ich würde mich mit jedem zugelassenen Impfstoff sofort impfen lassen. Und man muss erklären, dass die Impfstoffe die einzige Möglichkeit sind, die Pandemie rasch zu überwinden. Trotzdem werden nicht alle den Impfstoffen vertrauen – das ist in Österreich ja nur bei der "Zeckenimpfung" der Fall.
Sie haben bereits im April gesagt, dass eine zweite Welle eine große Wucht haben kann. Damals wurde Ihnen vorgeworfen, sie verbreiten Panik. Fühlen Sie sich jetzt bestätigt?
Nein, mir wäre natürlich lieber gewesen, es hätte keine zweite Welle gegeben. Aber sowohl 1918 bei der Spanischen Grippe und 2009 bei der H1N1-Pandemie ("Schweinegrippe", Anm.) gab es nach ersten Wellen im Frühjahr und einer Entspannung im Sommer eine schlimmere zweite Welle im Herbst. Viele Viren, die eine Atemwegserkrankung hervorrufen, haben eine gewisse Saisonalität, sind vielleicht stabiler, wenn es kälter ist. Auch der vermehrte Aufenthalt in Innenräumen und der Schulbeginn im Herbst können eine Rolle spielen. Welche Faktoren es genau sind, warum eine zweite Welle heftiger verläuft, weiß man aber nicht.
Wäre der zweite Lockdown vermeidbar gewesen?
Ich glaube schon. Wahrscheinlich hätte man schon Ende August überlegen sollen, welche Beschränkungen man jetzt wieder einführt, vermutlich hätte man schon früher den Restaurantbetrieb in Innenräumen einschränken sollen, eine generelle, weitreichende Maskenpflicht einführen und auch die Schulen besser vorbereiten sollen. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung damals, angesichts der noch wenigen Fälle, bereitgewesen wäre, da mitzugehen. Wenn man aber einmal Tausende Fälle pro Tag hat, dann geht es nicht mehr anders als mit einem Lockdown.
Gegner des Lockdowns meinen, man sollte eher Risikogruppen besser abschotten.
Das ist schwierig. Zählt man da alle Personen über 50, alle mit Vorerkrankungen dazu, ist das ein großer Teil der Bevölkerung. Wenn man ihnen sagt, ihr müsst euch jetzt verstecken, wie soll das gehen? Gerade in Österreich leben doch noch in vielen Familien alle vom Enkel bis zur Oma zusammen. Diese älteren Menschen müsste man dann ja woanders unterbringen. Und wenn sie das Virus ungebremst durch die Gesellschaft laufen lassen und nur versuchen, die Risikogruppen abzuschotten, werden sie trotzdem eine hohe Auslastung der Spitäler bekommen. Was ist, wenn dann jemand aus der Hochrisikogruppe einen Herzinfarkt bekommt? Den können Sie dann eigentlich nicht ins Spital bringen, weil es dort viele Infizierte geben wird. Dieses Abschotten ist einfach nicht umsetzbar. Ich glaube, die einzige Lösung, die wir im Moment haben, ist, die Viruszirkulation auf einem niedrigen Niveau zu halten – damit kann man alle schützen.
Ist ein dritter Lockdown vermeidbar?
Das hoffe ich schon, wenn man jetzt die Viruslast wirklich stark runterbringt. Dann kann umfangreiches, rasches Testen – auch mit Antigentests – und nachverfolgen von Kontakten helfen, Cluster frühzeitig aufzuspüren. Den ganzen Winter über wird es wahrscheinlich eine weitreichende Maskenpflicht geben müssen. Und man muss sich wirklich überlegen, ob man im Winter in Innenräumen vieles machen will – seien es Restaurants oder Kulturveranstaltungen. Alles in Innenräumen ist vor allem im Winter ein Risiko.
Wird es ein ausreichendes Verständnis für längerfristige Einschränkungen in der Bevölkerung geben?
Ich glaube,dieses Verständnis hat in den vergangenen Wochen und Tagen deutlich zugenommen. Das Problem war und ist ja auch, dass es sehr viele Falschinformationen gibt. Es gab Diskussionsrunden im Fernsehen, wo Diskutanten auftraten und sagten, man könne ruhig in Gemeinschaft singen und sich infizieren, das Virus sei ja gar nicht so bedrohlich. Es sind Sachbücher geschrieben worden, in denen alles verharmlost wurde, die aber Nummer eins auf Bestsellerlisten waren. Es ist ja auch sehr einfach das alles zu glauben, solange es wenige Infektionen gibt. Die Realität ist halt eine ganz andere.
Wie sehen Sie die Situation in Europa und den USA?
In Europa positiver: In Tschechien, Belgien, den Niederlanden ist die Trendumkehr gelungen, in anderen Ländern gibt es ein Plateau, zwar mit viel zu hohen Fallzahlen, aber der Anstieg ist gestoppt. Ich glaube, dass auch Österreich die Trendumkehr schaffen wird. Europa kriegt das wieder in den Griff. In den USA ist das schwieriger, da werden weniger Gegenmaßnahmen gesetzt und in einigen Bundesstaaten steigt die Zahl der Neuinfektionen wahnsinnig stark an, leider auch bei uns in New York. Das müssen wir genau beobachten.
Ist es realistisch, dass die Pandemie im kommenden Sommer unter Kontrolle ist?
Das ist derzeit Spekulation, aber ich würde es sehr hoffen. Ich erwarte, dass zwei Faktoren zusammenkommen werden: Dass einerseits im kommenden Jahr immer mehr Impfstoff zur Verfügung stehen wird und damit die Durchimpfungsrate gegen den späten Frühling hin deutlich ansteigen wird. Zweitens werden die Temperaturen steigen, was die Viruszirkulation ja ebenfalls einschränkt. Beides zusammen kann die Basis dafür sein, dass man die Pandemie bis zum Sommer unter Kontrolle bringt.
Eine Frage, die viele beschäftigt: Wie lange ist man nach einer natürlichen Infektion geschützt?
Das ist derzeit schwierig abschließend zu beurteilen. Aber Nachrichten am Anfang der Pandemie, dass die Antikörper nach acht Wochen verschwinden, haben sich als unwahr herausgestellt. Was wir bisher sehen ist, dass es sich um eine ganz normale Immunantwort handelt, und es ist davon auszugehen, dass diese einige Jahre anhalten wird. Momentan sind Reinfektionen jedenfalls sehr selten. Wir haben dazu große Studien gestartet und verfolgen Leute, die eine Infektion hatten, über längere Zeit, sehen uns an, wie sich Ihre Antikörperantwort entwickelt. Bis jetzt haben wir in unseren Studien niemanden gefunden, der sich ein zweites Mal infiziert hätte. Es ist ja auch die Frage, was "Reinfektion" bedeutet: Ist das eine komplett asymptomatische Infektion, oder ist es nur mehr eine milde Erkrankung, die man nach einigen Jahren bekommt. Das müssen wir uns genau ansehen.
Und wie lange wird ein Impfschutz anhalten?
Auch das kann man jetzt noch nicht sagen, aber ich glaube, es wäre nicht schlimm, wenn man alle paar Jahre eine Auffrischungsimpfung benötigt. Es könnte ja auch zu der absurden Situation kommen, dass man sich impfen lässt, nach ein paar Jahren die Immunantwort zwar abfällt, eine neuerliche Infektion aber asymptomatisch verlaufen würde, weil es doch noch einen gewissen Schutz gibt. Dann hätte eine solche unbemerkte Infektion denselben Effekte wie eine Impfung, die Antikörperspiegel würden wieder ansteigen.
Stationen
Florian Krammer wurde 1982 in der Steiermark geboren. Nach seinem Studium an der Universität für Bodenkultur in Wien kam er 2010 an die "Icahn School of Medicine at Mount Sinai" in New York.
Forschung
Dort arbeitete er im Labor des ebenfalls aus Österreich stammenden Virologen Peter Palese an der Entwicklung eines universalen Grippeimpfstoffes, der gegen alle Grippe-Viren schützen soll. Seit 2018 ist er Professor für Impfstoffforschung am Department of Microbiology und leitet das „Krammer laboratory“.
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