Einkaufen in Stille: Besonderes Angebot für sehr sensible Menschen
Es kann der Piepton der Kasse beim Scannen eines Artikels sein oder das grelle Licht beim Kühlregal – für besonders sensible Menschen, etwa mit Autismus oder ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung), können manche Reize das Einkaufen extrem erschweren. Geräusche wie das Quietschen eines Einkaufswagens sowie Lichtquellen, die den meisten Menschen nicht sonderlich auffallen, können für sie nicht nur sehr unangenehm sein, sondern je nach Ausprägung bis hin zu einem körperlichen Zusammenbruch führen. "Jeder kann empfindlich auf gewisse Reize reagieren, typisches Beispiel ist das Kratzen an einer Tafel. Bei Autismus geht es aber in den schmerzhaften Bereich bis hin zu migräneartigen Zuständen", erklärt Iris Koppatz von der Autistenhilfe Österreich.
Manche müssen sich nach dem Einkaufen erst einmal erholen. Auch bei Menschen mit Migräne, Long Covid, Multipler Sklerose oder Depressionen kann eine Reizüberflutung zu Beeinträchtigungen führen.
Manche Supermärkte bieten deshalb stille Stunden an: Während dieser Zeit wird das Licht gedimmt, es gibt keine Durchsagen oder Musik. Laute Gespräche, etwa mit dem Handy, sollen unterlassen werden, das Piepsen der Kassa wird leiser gestellt oder ganz ausgeschaltet. Das Konzept stammt ursprünglich aus Neuseeland und ist dort bereits flächendeckend verbreitet.
Bisher nur in 9 Billa-Filialen möglich
Auch in Österreich kommen die stillen Stunden langsam an. Bisher gibt es sie aber nur in neun Billa-Filialen, eine davon in Wien. Die Zeiten sind von Standort zu Standort verschieden, jedoch alle am Nachmittag. "Die stille Stunde wird gemeinsam mit lokal ansässigen Sozialorganisationen an Orten eingeführt, an denen vermehrter Bedarf nach reizarmem Einkaufen besteht. Sie findet während einer Stunde des Tages statt, wo mit wenig Kunden- und Lieferantenaufkommen gerechnet wird, damit der Markt wirklich ruhig sein kann. Manche Standorte mit durchgehend starker Frequenz scheiden daher von vornherein aus", betont Simone Hoepke von Rewe.
Derzeit bietet nur Billa stille Stunden an. Diese sind österreichweit in 9 Filialen täglich:
- 1050 Wien, Goldeggasse, 14 bis 15 Uhr
- Neusiedl, Wiener Straße, 14 bis 15 Uhr
- Linz, Lindengasse, 16 bis 17 Uhr
- Graz, Theodor Körner Straße, 14 bis 15 Uhr
- Hornstein, 13 bis 14 Uhr
- Krumpendorf, 15 bis 16 Uhr
- Klagenfurt, Ebentalerstraße, 15 bis 16 Uhr
- Klagenfurt, 10. Oktober Straße, 15 bis 16 Uhr
- Völkermarkt, Klagenfurter Straße, 14 bis 15 Uhr
Sonnenbrille hilft
In den teilnehmenden Filialen werden Piepstöne der Kasse sowie das Radio ausgeschaltet. Auf Wunsch kann eine Sonnenbrille ausgeliehen werden. Die Mitarbeiter sind speziell geschult, etwa langsamer zu kassieren oder mehr Abstand zu halten. Die Rückmeldungen aus der Community, aber auch von Menschen ohne Autismus seien positiv, sagt Koppatz: "Es ist ein sehr guter Vorstoß in die richtige Richtung und ein tolles Anerkennen dessen, dass es Menschen mit besonderen Bedürfnissen gibt, die als solche einen Platz in unserer Gesellschaft haben."
Für die Autistenhilfe ist das Angebot in Österreich allerdings noch "ausbaufähig", es seien schlicht zu wenig Filialen und Zeiten, die – nur auf den Nachmittag begrenzt – für Berufstätige nicht geeignet seien. Rewe plant die stillen Stunden zwar in weiteren Billa-Filialen, in anderen Märkten des Konzerns derzeit aber nicht. Bei Spar sind keine stillen Stunden geplant, ebenso bei Hofer, wo jedoch auf Hintergrundmusik verzichtet wird und versucht werde, "den Lärmpegel sehr gering zu halten", heißt es auf KURIER-Anfrage. Bei Lidl habe es bisher noch keine Anfragen zu stillen Stunden gegeben, "daher sehen wir aktuell keinen Bedarf dafür", man werde das Thema jedoch intern besprechen.
Die USA sind schon viel weiter
Etwas weiter ist Deutschland, wo die Zahl teilnehmender Geschäfte und Cafés stetig zunimmt. Die Initiative "Stille Stunde" sammelt auf ihrer Website etwa Standorte. Von einem flächendeckenden Angebot ist man aber auch hier weit entfernt. Vorreiter sind neben Neuseeland die USA, wo neben zahlreichen Supermarktketten auch Museen, Theater und Kinos Angebote für neurodivergente Menschen (siehe Info) machen.
Neurodivergenz
Der Überbegriff umfasst Menschen mit Autismus, ADHS und Lernschwierigkeiten wie Legasthenie, deren Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, außerhalb der Norm liegt. Ziel des Begriffs ist, Autismus und andere neurologische Unterschiede nicht als Krankheit zu sehen, sondern als Variation
Autismus
Laut Schätzungen leben in Österreich rund 87.000 Menschen im Autismus-Spektrum. Männer sind häufiger betroffen. Als Ursache wird ein Zusammenspiel von genetischen sowie Umweltfaktoren vermutet
Autistenhilfe
Die gemeinnützige Non-Profit-Organisation unterstützt Menschen mit Autismus, etwa mit Beratung, bei Diagnose und Therapie
www.autistenhilfe.at
In Österreich müssten viele Menschen mit Autismus versuchen, ein für sie passendes Konzept beim Einkaufen zu finden, indem sie etwa Kopfhörer oder eine Sonnenbrille tragen, um Reize zu reduzieren. Die meisten wüssten, wann in ihren Lieblingsgeschäften weniger los ist. Abends werde etwa oft schon die Musik abgeschaltet und es gibt keine Durchsagen mehr.
Autismusversorgung steckt noch "in den Kinderschuhen"
Es brauche Therapien und Beratung für Betroffene. "Die Autismusversorgung steckt in Österreich aber noch in den Kinderschuhen. Zwar hat sich in den vergangenen Jahren einiges bewegt, das Verständnis ist gestiegen, viele sind informierter. Autismusspezifische Therapien werden aber immer noch nicht von der Krankenkasse bezahlt. Mit den richtigen Tools und Behandlungen wäre die Bewältigung des Alltags wesentlich einfacher", sagt Koppatz.
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