Ruhe bitte! Die heilsame Suche nach der Stille
Das CTG-Gerät puckert im Rhythmus der Herztöne. Schuhe heben und senken sich schmatzend auf dem Linoleumboden. Ein lang gezogenes "Ahhhhh" dröhnt durch den Raum. Ein Telefonhörer scheppert aus der Halterung, "Geburt in Kreißsaal zwei", verlautbart die Hebamme in die Sprechmuschel.
Eine Geburt ist wahrlich kein geräuschloses Ereignis. "Und doch entfaltet sich in dem Moment, bevor das Neugeborene zum allerersten Mal schreit, eine ganz und gar bedeutsame Stille", sagt Eric Pfeifer. Seit mehr als zehn Jahren forscht der österreichische Musik- und Psychotherapeut zum Phänomen der Stille, derzeit an der deutschen Katholischen Hochschule Freiburg.
Wie definiert er Stille?
"Ich würde sagen: Als ein komplex zu bezeichnendes akustisches Phänomen." Absolute Stille existiere für den Menschen praktisch nicht. "Studien in extra dafür geschaffenen, schallisolierten Räumen zeigen, dass wir sogar dort etwas hören: Unsere eigenen Körpergeräusche, das Rauschen unseres Blutes zum Beispiel."
Totale Stille ist auch aus technischer Sicht kaum herstellbar, weiß Schallforscher Hannes Raffaseder von der FH St. Pölten. "Überall wo Bewegung, wo Leben ist, werden Objekte in Schwingung versetzt – Geräusch entsteht", sagt der Medientechnologe. In annähernd schalltoten Räumen, wie sie sich etwa auch große Auto- oder Audiokonzerne zu Testzwecken leisten, fühle man sich "ohnehin ziemlich unwohl".
Es sei nicht die – potenziell beängstigende – Totenstille, nach der sich der Mensch in einer immer geräuschvolleren Welt sehne. "Es ist eher die Ruhe", sagt Raffaseder. "Eine Ungestörtheit, in der wir uns wohlfühlen."
Geräusche im Bereich zwischen 40 und 65 Dezibel (dB) empfinden Menschen meist als „normal“ laut. Schon bei einer Lautstärke von 80 bis 85 dB kann unser Gehör Schaden nehmen.
Die Macht der Geräusche
Der Wald, das Meer, ein einsamer Berggipfel, eine verschneite Winterlandschaft: Wirklich still ist es an gängigen Wohlfühlorten in der Tat nicht. Wellen, die sich brechen, knackendes Holz, pfeifende Windböen, Schnee, der unter den Stiefeln knirscht – wie genau Geräusche auf uns wirken, ist hochgradig subjektiv. "Es hängt vom Umfeld und von Vorerfahrungen ab und davon, wie es uns gerade geht", sagt Raffaseder.
Eine menschliche Eigenart, an deren Imitation die KI etwa scheitert, wie Forschungen an der FH St. Pölten ergeben haben. Man ließ künstliche Intelligenz Audiodatenbanken durchforsten und ähnliche Klänge ermitteln. "Für die Maschine waren Tastaturtippen und Kaminknistern ebenso ident, wie das Rauschen eines Baches und das einer Autobahn."
Aus evolutionärer Sicht ist Lärm ein wichtiges Signal, das dem Menschen Erkenntnisse über seine Umwelt vermittelt. Auf Dauer kann Lärm krank machen. Das wissen Fachleute schon lange. Dauerlärm von Flughäfen oder Autobahnen kann das Hormonsystem und das autonome Nervensystem aktivieren, Blutdruck, Herzfrequenz und Stoffwechsel beeinflussen sowie den Schlaf und das Gehör stören. Das Risiko für psychische Erkrankungen steigt: Menschen, die in ländlichen Regionen leben, leiden seltener an schweren psychischen Störungen. "Ein Faktor ist sicher der Lärm", so Pfeifer.
Belege für Gefährdung gibt es laut Fachleuten nicht, doch der Effekt neuer Technologien muss erforscht werden.
Mehr Stresshormone, Organschäden, Unfruchtbarkeit, Tumore: Seit Handys und Smartphones unsere Hand- und Hosentaschen erobert haben, wird über die potenziell gesundheitsschädigenden Effekte der Mobilfunkstrahlung diskutiert. In Österreich prüft der Wissenschaftliche Beirat Funk (WBF) jährlich die Studienlage zum Thema. Basierend darauf wird informiert, ob Mobilfunk, sprich Handys und Handymasten, aber auch andere Quellen hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung, Radiosender etwa, nach aktuellem Forschungsstand die Gesundheit beeinträchtigen.
Für den jüngsten Bericht wurden 160 internationale Human-, Tier- und Zellstudien sowie andere wissenschaftliche Publikationen, die zwischen Juli 2022 und Juni 2023 veröffentlicht wurden, gesichtet. Sie befassen sich mit möglichen Effekten auf Wohlbefinden und Schlaf, Gehirn und Nervensystem, männliche Fertilität und Krebserkrankungen.
Die gute Nachricht: Die Fachleute kommen auch heuer zu dem Schluss, dass "eine vom Mobilfunk ausgehende Gefahr für die Gesundheit als unwahrscheinlich anzusehen ist". Es gebe "keinen Nachweis der Gefährdung des Menschen durch hochfrequente elektromagnetische Felder des Mobilfunks".
Allerdings, das betonen die Fachleute, entwickeln sich moderne Technologien rasant weiter. In manchen Bereichen seien schädliche Wirkungen nicht gänzlich auszuschließen. Hier sei auch künftig ein genaues Hinsehen der Wissenschaft erforderlich.
Die Welt in der Lärmkurve
Schon 2001 beschrieb die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die wachsende Lärmverschmutzung als "moderne Plage". Seither hat die Institution ihren Befund mehrfach bekräftigt. Die Frage, ob die Welt tatsächlich immer lauter wird, ist schwierig zu beantworten. Insbesondere für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert existieren keine echten Tonquellen.
Während manche Fachleute davon ausgehen, dass die Welt jährlich um ein halbes bis ganzes Dezibel lauter wird, sehen andere die Sache differenzierter. Im Gespräch mit dem Schweizer SRF befand der Historiker und Musiker Kai-Ove Kessler kürzlich, dass der Lärmhöhepunkt bereits überschritten sei. Durch den Verbrennungsmotor, Fabriken, Flugzeuge, aber auch die Zahl der Menschen wurde die Welt in den Städten im 20. Jahrhundert so laut wie nie zuvor. In den Siebzigern erreichte der Lärm seinen Höhepunkt. Damals hätten die Menschen erkannt, wie gefährlich Lärm ist und begonnen, sich dagegen zu wehren.
Nun wird es also leiser. Dank der Anti-Lärm-Bewegung etwa, moderner schallreduzierender Technologien – ein Flugzeug ist heute deutlich leiser als noch vor 20 Jahren – oder laufend angepasster Richt- bzw. Leitlinien für Umgebungslärm seitens der EU und der WHO. Das spiegelt sich in heimischen Daten zur Lärmstörung wider, die seit den Siebzigern erhoben werden. Im Wohnbereich fühlen sich heute mehr Menschen lärmtechnisch ungestört als vor 30 Jahren.
Ist es also eher eine Überbelastung all unserer Sinne in einem immer digitaleren Alltag durch Smartphones, Kommunikationskanäle, Lautsprecher und Bildschirme, die die Welt so laut erscheinen lässt? Mit wachsender Digitalisierung durchdringt Schall das menschliche Leben immer umfassender, bestätigt Raffaseder: "Noch vor 100 Jahren musste man weite Wege gehen, um Musik hören zu können. Heute ist es umgekehrt: Es gibt kaum mehr Orte, wo keine Musik läuft." Selbst im Ruheraum so manches Wellnesshotels werde man zwangsbeschallt. "Dynamiken, die sich insgesamt aufschaukeln", meint Raffaseder.
Sensorische Überlastung des Gehirns
"Wenn das Gehirn permanent mit äußeren Reizen konfrontiert wird, ist es irgendwann ständig auf Empfang gestellt. Das kann zu einer Belastung, mitunter auch sensorischer Überlastung führen", präzisiert Pfeifer. Das Gehirn brauche in einer reizintensiven Zeit Erholungsphasen. "Hier kann die Stille hilfreich sein."
Allerdings – darin sind sich Fachleute einig – hält der Mensch Stille zunehmend schlechter aus. "Wer vor 30 Jahren an einer Bushaltestelle auf den Bus gewartet hat, wusste nicht, wie viel Verspätung er haben wird, und hatte zur Ablenkung höchstens ein Buch dabei", beschreibt Pfeifer. "Man verbrachte die Wartezeit in einer gewissen Form von Stille, des Nicht-Reizes. Heute ist die Wahrscheinlichkeit hoch, das Warten mit Handy und Kopfhörern zu überbrücken, während man stets auf die digitale Anzeige starrt. Man gibt sich vermeintlich interessanteren Reizen hin."
Der Flucht in die Ablenkung bewusst zu widerstehen, kann den Weg zur Stille ebnen, weiß Kognitionspsychologe Ulrich Ansorge. "Sich bewusst für den geistigen Leerlauf zu entscheiden, birgt Potenzial", sagt er. Dazu muss man wissen, dass im Gehirn auch bei Stille viel passiert.
Auf das Ausmaß neuronaler Aktivität stießen Forschende eher zufällig. "Man hat bei Probanden die Hirnverarbeitung bei verschiedenen Aufgaben mit bildgebenden Verfahren gemessen", so Ansorge, der an der Universität Wien dazu forscht. Um die Hirnaktivität während der Aufgaben von jener im Ruhezustand abzugrenzen, wies man eine Kontrollgruppe an, sich zu entspannen und nichts zu tun. "Da hat man erst realisiert, dass das, was im Gehirn in der Stille passiert, hochinteressant ist."
Überraschend aktiver Ruhemodus
In Summe wurden bislang zehn unterschiedliche Netzwerke ausgemacht, die oft wechselweise, manchmal überlappend, aktiv sind, wenn der Mensch im Ruhemodus ist. "Am bekanntesten ist das sogenannte Default Network, das mit einer Art Mindestzustand an Hirnaktivität gleichzusetzen ist und psychologisch mit nach innen gerichteter Aufmerksamkeit verbunden wird."
Dieses Default Network, das beim mentalen Treibenlassen zur Höchstform aufläuft, das immer dann feuert, wenn plötzlich Ruhe ist, macht man sich bei gängigen Achtsamkeits- und Meditationspraktiken zunutze. "Dabei richtet man die Aufmerksamkeit auf das innere Geschehen, einen Bereich, der im Alltag oft als störend empfunden und durch Ablenkung „übertönt“ wird. Bei einer Meditation unterbricht man Gedankenreisen nicht, sondern nähert sich ihnen wertfrei und stößt dabei bestenfalls auf neue, originelle Einsichten."
Eine definierte Dosis der täglich gesunden Stille gibt es nicht. "Stille ist kein Medikament, das man einnehmen kann, während alles weiterläuft wie bisher", sagt Pfeifer. Zwar sei Stille bedeutsam für die gesunde Entwicklung des Menschen – so beschrieb etwa der britische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott, dass selbst kleine Kinder von Erfahrungen der Stille profitieren –, ein Allheilmittel ist sie aber nicht.
Kindheitserfahrungen prägen jedenfalls, wie wir Stille im Erwachsenenalter erleben. "Ein Kind wird im Jugendalter eher selten zu einem Buch greifen, wenn es nicht schon in der frühen Kindheit Leseerfahrungen gemacht oder von den Eltern Entsprechendes vorgelebt bekommen hat."
Bei der Stille ist es ähnlich: "Wenn in der Familie regelmäßig Stille-Momente, vielleicht auch Momente des Nichtstuns praktiziert und für das Kind positiv erlebbar gemacht werden, besteht die Chance, dass dieses Kind später einen Zugang zu Stille besitzt", so Pfeifer.
Rund um die Sehnsucht nach der Stille hat sich inzwischen ein Markt entwickelt: Schweige-Retreats, immer raffiniertere Noise-Cancelling-Kopfhörer, Apps, die das Handy für bestimmte Zeiträume verlässlich stumm schalten. Immer mehr Menschen tauschen Geld gegen Geräuschlosigkeit. Eine Entwicklung, die Stille-Forscher Pfeifer kritisch sieht: "Silence sells – das hat inzwischen auch die Wirtschaft verstanden. Die Gefahr besteht, dass Stille zu Selbstoptimierungszwecken vermarktet und zweckentfremdet wird."
Gut gegen Seelenleid
In der Stille liegt therapeutisches Potenzial. Bei der sogenannten Floating-Therapie liegen Teilnehmende in einer mit Salzwasser gefüllten Wanne. Der hohe Salzgehalt lässt sie auf der Oberfläche treiben, der Raum ist schall- und lichtisoliert. An den Körper sollen möglichst wenige Sinneseindrücke gelangen. Niederländische Forschende konnten vor einigen Jahren zeigen, dass die Floating-Technik Stress-, Angst- und Schmerzsymptome lindert – und zwar in größerem Ausmaß als klassische Entspannungstechniken.
Allein in einer dunklen mit Wasser gefüllten Kammer treiben, den Atem und das pochende Herz wahrnehmen – das kann auch beklemmend sein. Bei der Floating-Therapie kann bei Bedarf Licht angedreht, die Therapie abgebrochen oder über ein Lautsprechersystem Kontakt mit einer Fachperson aufgenommen werden.
Wie sehr Stille irritieren kann, ließ sich vor über 70 Jahren in der New Yorker Maverick Concert Hall beobachten. 1952 wurde dort ein Stück des Komponisten John Cage uraufgeführt. Statt in die Tasten des Klaviers zu hämmern, klappte Pianist David Tudor zu Beginn des Stücks den Deckel zu und saß einfach nur da. Was das Publikum nicht wusste: Cages Werk "4’33" enthält keine einzige Note. Die verstimmten Zuschauer sollen die Stille kaum ertragen haben. Manche begannen zu reden, andere verließen den Saal.
Stille kann nicht nur verstören. Sie kann auch Gefühle von Einsamkeit aufkommen lassen, wird in der Isolationshaft zu Folterzwecken eingesetzt. "Nach traumatischen Erlebnissen fehlen uns oft die Worte – Stille wird raumgreifend", sagt Pfeifer. Entscheidend sei auch der Kontext: "Wenn ich meine Stille selbst gestalte, fühlt sie sich anders an, als wenn sie mir aufoktroyiert wird."
Nicht nur der Beginn des Lebens ist von einer gewissen Stille geprägt. "Wenn wir an einen anderen Übergang menschlichen Daseins am Ende des Lebens denken", sagt Pfeifer, "gehen wir erneut in eine Stille, den Tod, über".
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