Diagnose Reizdarm-Syndrom: Wenn der Bauch nicht zur Ruhe kommt

Frau hält sich den schmerzenden Bauch.
Körperliche Tests verlaufen bei Betroffenen oft ergebnislos. Warum sie dennoch nicht als eingebildete Kranke abgestempelt werden dürfen, wie die Beschwerden therapiert werden und was neue Mikrobiom-Tests bringen, weiß Expertin Larisa Dzirlo.

Bauchkrämpfe, Blähungen, Durchfall: Rund eine Million Menschen kämpfen in Österreich mit Reizdarm-Symptomen. Die Ursachen der Magen-Darm-Beschwerden sind komplex, Betroffene werden oft nicht ernstgenommen, weiß Spezialistin Larisa Dzirlo

Welche Rolle die Psyche bei der Entstehung des Syndroms spielt und wie Patientinnen und Patienten geholfen werden kann, erklärt die Fachärztin für Innere Medizin und Leiterin der Reizdarm-Ambulanz am Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien im KURIER-Interview.

KURIER: Frau Dr. Dzirlo, welche Menschen kommen zu Ihnen an die Ambulanz?

Larisa Dzirlo: In unsere Ambulanz kommen Menschen mit unterschiedlichen Magen-Darm-Erkrankungen. Zum Beispiel auch mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Reizdarmpatientinnen und -patienten haben meist einen langen Leidensweg hinter sich: Viele Untersuchungen, Blutabnahmen, Allergietests, Diätberatungen. Manche haben auch Psychiater und Psychotherapeutinnen gesehen. Ihre Symptome sind trotzdem nicht besser geworden.

Welche Beschwerden sind typisch? 

Bauchschmerzen und -krämpfe, Blähungen, Veränderungen der Stuhlhäufigkeit und/oder -konsistenz. Das kann – je nach Ausprägung der Symptomatik – sehr belastend sein. Viele Patientinnen und Patienten fühlen sich im Alltag durch die Beschwerden stark eingeschränkt, ihre Lebensqualität leidet teils beachtlich. 

Wie äußern sich die Einschränkungen im Alltag? 

Betroffene, die tagsüber immer wieder von Bauchkrämpfen oder Durchfall geplagt werden, denken ständig an das nächstgelegene WC und können am gesellschaftlichen Leben manchmal kaum mehr teilhaben. Nicht mehr unbeschwert ins Kino oder Theater gehen, zum Beispiel. 

Das muss großen Stress für Betroffene bedeuten. Können psychische Belastungen auch Ursache eines Reizdarms sein? 

Bei Reizdarm spricht man oft von einer Erkrankung ohne Befund – genauer gesagt, ohne körperlichen Befund. Diese Aussage impliziert in unserem medizinischen System eine misstrauische Haltung Patientinnen und Patienten gegenüber. Viele fühlen sich nicht ernstgenommen, weil eben "der Befund" fehlt. Leider hören sie von ärztlicher Seite nicht selten: „Sie haben nichts.“ Doch die Beschwerden sind nicht eingebildet. Auf dem diagnostischen Weg müssen sie sich für ihren Leidensdruck dennoch rechtfertigen. Es ist bedauerlich, dass die Emotionen als Baustein unseres Wohlbefindens nach wie vor nicht vollumfänglich ernstgenommen werden.

Was bedeutet das im Hinblick auf die Ursachen?

Reizdarm-Patienten haben keinen Befund für eine chronisch entzündliche Darmerkrankung, sie haben keinen Tumor, sie haben keine akute Infektion. Aber sie haben Symptome, bei denen komplexe Mechanismen am Werk sind. Es geht letztlich um eine Störung in der Darm-Hirn-Interaktion. Heute wissen wir, dass bei Reizdarm-Patienten Veränderungen auf organischer, zellulärer, molekularer und genetischer Ebene zu beobachten sind. Nachweisbar sind Veränderungen in der Darmbeweglichkeit und -durchlässigkeit, bei Botenstoffen und der Bakterienbesiedelung im Darm, in bestimmten Hirnarealen sowie eine viszerale Hypersensitivität, was bedeutet, dass Bauchorgane überempfindlich auf Schmerzen reagieren.

Die Gründe sind vielschichtig?

Richtig, das Reizdarm-Syndrom ist multifaktoriell bedingt. Wenn auf eine genetische Veranlagung bestimmte Umweltfaktoren treffen – hier kommt der Stress ins Spiel, aber auch traumatische Erlebnisse, hormonelle Veränderungen oder bakterielle Infekte –, kann ein Reizdarm-Syndrom ausgelöst werden. 

Die Psyche spielt eine zentrale Rolle?

Sie spielt in der Entstehung, aber auch in der Aufrechterhaltung und Bewältigung eine Rolle. Man weiß heute, dass Reizdarm-Patienten umgekehrt auch eine erhöhte Rate für psychische Erkrankungen, Angststörungen, Depressionen oder somatoforme Störungen, aufweisen. Auch eine atypische Essstörung kann sich aus einer langen, unbehandelten Reizdarm-Symptomatik entwickeln.

Eine rasche Diagnose scheint wichtig. Wie gelangt man dazu?

Zuerst sprechen wir mit den Patientinnen und Patienten. Dabei müssen individuelle biologische, psychische und soziale Aspekte berücksichtigt werden. Ganz wichtig ist, Alarmsymptome abzufragen: Blut im Stuhl, starker Gewichtsverlust, Fieber. Dann ist die Diagnose Reizdarm unwahrscheinlich. Darauf aufbauend können diagnostische Mittel ergriffen werde: Ein komplettes Blutbild mit Zöliakie-Bestimmung, eine Stuhluntersuchung auf Bakterien, Parasiten, Funktion der Bauchspeicheldrüse und Entzündungsparameter. Dann veranlassen wir einen Bauchultraschall und eine gynäkologische Untersuchung bei Frauen mit Unterbauchschmerzen, um eine Endometriose nicht zu übersehen. Dann folgt eine Magen-Darm-Spiegelung mit Gewebeprobenentnahme. In der Zusammenschau können wir beurteilen, ob der Patient ein Reizdarm-Syndrom oder eine andere Darmerkrankung hat.

Oft haben Patientinnen und Patienten selbst Nahrungsmittelunverträglichkeiten im Verdacht …

Wir hören häufig den Satz "Ich habe das Gefühl, ich vertrage das nicht". Oft versuchen Patienten im Selbstversuch, Nahrungsmittelgruppen wegzulassen, um ihre Symptome besser unter Kontrolle zu haben. Wenn dieser Prozess zu lange dauert und Patientinnen damit alleine gelassen werden, können sie Ängste vor bestimmten Lebensmitteln oder dem Essen selbst entwickeln.

Wie oft ist eine Nahrungsmittelunverträglichkeiten ursächlich beteiligt?

Bis zu 70 Prozent der Patienten berichten, dass sich ihre Beschwerden nach bestimmten Lebensmitteln verschlechtern. Aber: echte, nachweisbare Unverträglichkeiten oder Intoleranzen sind deutlich seltener objektivierbar. Kolleginnen und Kollegen sollten im niedergelassenen Bereich bei Verdacht jedenfalls eine Austestung veranlassen, damit man Klarheit hat und Ernährungsmaßnahmen ergriffen werden können. 

Man vermutet, dass ein Ungleichgewicht im Mikrobiom die Entstehung von Magen-Darm-Symptomen begünstigt. Vor diesem Hintergrund sind sogenannte Mikrobiom-Tests im Trend. Was halten Sie davon?

Wir wissen, dass das Mikrobion bei Reizdarm-Patienten verändert ist. Es gibt aber viele offene Fragen, was die Tests betrifft, etwa ob die Bestimmungen im Stuhl oder Gewebe gemacht werden sollte und wie die Ergebnisse interpretiert werden sollten. Wenn man fehlende Bakterienstämme supplementiert, werden die Beschwerden in der Praxis außerdem nicht besser. Ich empfehle diese Diagnostik aktuell nicht, weil sie für die Behandlung keine sinnvolle Konsequenz hat.

Wie kann Betroffenen geholfen werden? 

Weil die Ursachen vielschichtig sind, muss es eine ebenso vielschichtige Therapie geben – eine Kombination verschiedener Ansätze. Je nachdem, welche Symptome vorherrschend sind, bekommen die Patientinnen und Patienten schmerzstillende oder anders wirksame Medikamente und Empfehlungen für Ernährungsumstellungen. Auch eine Psychotherapie kann sinnvoll sein. Der erste therapeutische Schritt beginnt im Erstgespräch. Da wird der Grundstein einer stabilen Arzt-Patient-Beziehung gelegt. Oft vernachlässigen Reizdarm-Patienten eigene Bedürfnisse, streben stark nach Leistung – da ist es wichtig, sie zu ermutigen, sich langfristig Gutes zu tun.

Ist das Reizdarm-Syndrom eine chronische Erkrankung – ist sie lebensverkürzend?

Sie ist nicht lebensverkürzend, verläuft aber in der Regel chronisch. Wenn mich Patienten fragen, ob sie für immer daran leiden werden, sage ich, dass man es gut behandeln kann. Aber der Darm kann eine Schwachstelle bleiben, die sich in Krisen aktiviert. 

Ist es noch ein Tabu, über die Verdauung zu sprechen? 

Den Eindruck habe ich nicht. Die mediale Berichterstattung und der freie Zugang zu medizinischen Quellen im Internet haben den Austausch geöffnet. Und die Menschen suchen auch bewusster Zugang zu Hilfe. 

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