Reizdarm und Psyche: Und der Bauch fühlt mit

Wenn Karina Spiess in eine neue Stadt kommt, schaut sie zuerst, wo es gute Toiletten gibt. Ausflüge plant sie so, dass sie nichts essen muss. Beim Kajakfahren kommt es schon mal vor, dass sie sich spontan ins Gebüsch zurückzieht- und statt Toilettenpapier die Socke ihres Freundes benutzen muss. Ihre "peinlichste Kackstory" erzählt die 26-Jährige dann auf Instagram. Mehr als 200.000 Menschen hören zu.
Karina Spiess leidet am Reizdarmsyndrom, einer chronischen Erkrankung des Verdauungstrakts, von der rund ein Fünftel der Weltbevölkerung betroffen ist. Die Ursache liegt in einem Zusammenspiel verschiedener Gründe. Typische Beschwerden sind Blähungen, Bauchschmerzen, Verstopfung oder Durchfall. Menschen mit chronischen Magen-Darm-Erkrankungen entwickeln aber auch häufiger psychische Erkrankungen wie Angstzustände und Panikattacken (siehe unten). Umgekehrt haben Menschen mit psychischen Erkrankungen auch ein deutlich erhöhtes Risiko für Magen-Darm-Erkrankungen.
Darm-Hirn-Achse immer mehr erforscht
Grund dafür ist die Verbindung zwischen Darm und Gehirn, die sogenannte Darm-Hirn-Achse, die beim Reizdarmsyndrom nachhaltig gestört ist. Wie weit diese reicht und wie stark unser Darm bzw. sein Mikrobiom mit unserem Gehirn kommuniziert, wird auf Hochdruck erforscht. Die Verbindung sei aber jedenfalls enger, "als es der breiten Öffentlichkeit wahrscheinlich bewusst ist", erklärt Elisabeth Schartner, Fachärztin für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Psychosomatik, im KURIER-Gespräch.
Die Verbindung zwischen Darm und Gehirn stellt größtenteils der Vagusnerv her. Durch diese neuronale Vernetzung können Bauch und Gehirn Informationen in beide Richtungen austauschen. Infolge können Einflüsse wie Emotionen, Gedanken oder Vorerfahrungen den Magen-Darm-Trakt beeinflussen, also etwa die Geschwindigkeit der Magen- und Darmbewegungen steuern.
Umgang mit Stress
Wie stark der Einfluss der Psyche auf den Verdauungstrakt ist, ist dabei individuell verschieden. Eine große Rolle könnte etwa eine gestörte Stressbewältigung spielen. "Häufig wurden aufgrund früherer Erfahrungen suboptimale Strategien zur Bewältigung von Schwierigkeiten erlernt."
DGBI ("disorders of gut-brain interaction", "Störung der Darm-Hirn-Interaktion") treten gehäuft gemeinsam mit psychischen Erkrankungen auf. Laut Studien soll sich bei rund einem Drittel der Betroffenen mit Reizdarm eine Panikstörung finden. Auch umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit, an einem Reizdarmsyndrom zu leiden, doppelt so hoch bei Patientinnen und Patienten mit Panikstörung.
Ein Zusammenhang besteht auch zwischen DGBI und Depressionen und Angsterkrankungen. Patientinnen und Patienten mit einer DGBI erlitten in der Vergangenheit zudem statistisch öfter Traumata beziehungsweise waren eher Opfer von Missbrauch in Kindheit oder Jugend.
Zudem steigt Studien zufolge auch die Wahrscheinlichkeit, an einem postinfektiösen Reizdarmsyndrom zu erkranken, wenn in den Monaten vor einer Magen-Darm-Infektion ein oder mehrere belastende Lebensereignisse wie ein Todesfall, eine Scheidung oder ein Umzug stattgefunden haben.
"Ein Großteil der Reizdarmpatientinnen und -patienten berichtet von belastenden Ereignissen vor der Diagnose Reizdarm", bestätigt Monika Spiegel, Psychotherapeutin und Spezialistin für Stresserkrankungen. "Die Frage stellt sich hier wie bekommen wir Ruhe und Entspannung in unser System."
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Angststörung entwickelt
Auch Influencerin Karina Spiess hat im Zuge ihrer chronischen Darmerkrankung psychische Probleme entwickelt. Zu groß waren die Sorgen im Alltag: "Jeder Schritt vor die Tür, auch wenn es nur ein Spaziergang mit dem Hund ist, ist belastend." Früher sei sie keine ängstliche Person gewesen, "aber nach drei Jahren mit Darmproblemen habe ich das Vertrauen in meinen Körper verloren - und eine Angststörung entwickelt".
Reizdarm und Angst- oder Panikstörungen sind eine Kombination, die Internistin Schartner häufig erlebt. "Auf der einen Seite gibt es Menschen, die seit einigen Jahren Darmprobleme haben und vielleicht schon als Jugendliche Panikattacken hatten. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die durch Darmprobleme und die unangenehmen Situationen, die damit verbunden sind, auch Angst- oder Panikstörungen entwickeln können.“
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Was kann man tun?
In ihre Praxis kämen vor allem junge Frauen, erzählt sie: "Das liegt daran, dass Frauen häufiger z.B. am Reizdarmsyndrom leiden und auch eher Hilfe suchen.“ Viele hätten sich aus Frust von der Schulmedizin abgewandt. Dabei biete diese viele Behandlungsmöglichkeiten, wie sie betont. "Bei leichteren Fällen reicht es oft aus, die Hintergründe, also wie es zu einer Magen-Darm- Erkrankung kommt, zu erklären und einige Lebensstilmaßnahmen einzuleiten."
Gute Erfolge erziele sie auch mit Hypnosetherapie. Dabei werden unter anderem Bilder und Suggestionen eingesetzt, die sich auf die Verdauungsorgane beziehen. "Bauchhypnose wirkt sich etwa in Studien bei rund 70 Prozent der Patientinnen und Patienten positiv auf die Lebensqualität aus. Auch Angst und depressive Symptome bessern sich häufig." Hilfreich ist häufig auch eine Psychotherapie oder ein Gruppensetting, "weil Betroffene sehen, dass sie nicht alleine sind". Denn die Scham, die mit der Krankheit verbunden ist, mache es für viele schwer, offen darüber zu sprechen. "Durchfall ist etwas anderes als Knieschmerzen. Oft weiß nicht mal die beste Freundin oder der neue Partner etwas davon. Ich muss die Patientinnen und Patienten dann manchmal daran erinnern, dass sie offen mit mir reden können."
Scham und Ekel sind bei Magen-Darm-Erkrankungen ein zentrales Thema, bestätigt Psychotherapeutin Spiegel. Auch sie plädiert: "Man muss einen Menschen als ganzheitliches System wahrnehmen, psychisch wie physisch.“ Aufklärungsarbeit ist für sie ein zentrales Thema: "Häufig 'schreit' der Körper bereits und die Seele weint und erst dann kommen Patienten zu mir in die Praxis."
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Auch Karina Spiess hilft der Austausch mit anderen Betroffenen - vor allem auf Social Media. "Jahrelang habe ich mich so geschämt, dass ich alles in mich hineingefressen habe. Als ich angefangen habe, in meinem Freundeskreis offen darüber zu sprechen, habe ich viel positives Feedback bekommen. Dann habe ich mir gedacht, dass ich das auch in den sozialen Medien teilen sollte."
Die Reaktionen, so beschreibt sie es, seien auch dort "extrem positiv". Mit ihrer Arbeit hofft die selbsternannte "Kackfluencerin", Magendarmerkrankungen weiter zu enttabuisieren. "Mit Humor kann man so viel aufarbeiten. Man lacht darüber und plötzlich ist das Schamgefühl weg. In meiner Bubble reden wir offen darüber und ich habe das gute Gefühl, dass das Thema immer mehr Gehör findet.“
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