Nudeln, Käse, Schokolade: Wenn alles, was schmeckt, krank macht
Schon einmal hat ihre Tochter gefragt: „Warum habe ausgerechnet ich PKU? Ich will das nicht.“ Katja Gielesbergers Antwort darauf: „Weil ein anderes Kind nicht so gut damit zurechtkommen würde – aber du schon.“
Als das heute zehnjährige Mädchen zur Welt kam, wurde im Rahmen des Neugeborenen-Screenings eine Phenylketonurie, kurz PKU, diagnostiziert; eine nicht heilbare Stoffwechselstörung, bei der der Abbau von Phenylalanin nicht oder ungenügend funktioniert.
Da diese Aminosäure aber als Grundbaustein der körperlichen Eiweiße an vielen Vorgängen im Organismus beteiligt ist, führt die Erkrankung unbehandelt zu körperlichen und schweren geistigen Schäden. Eine strenge Diät, die auf einer vegetarisch-veganen Kost und speziellen Aminosäure-Mischungen basiert, kann das verhindern. Letztere schmecken aber alles andere als gut.
Für Familien ist die Herausforderung groß. Während Nicht-Betroffene bei Tisch nach Lust und Laune zulangen dürfen, müssen Kinder mit PKU auf Vieles verzichten: etwa auf Brot, Nudeln, Wurst, Käse, Schokolade.
Als Obfrau der Selbsthilfegruppe ÖGAST (Österreichische Gesellschaft für angeborene Stoffwechselstörungen) weiß Katja Gielesberger nicht nur aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass sich Familien von der Diagnose nicht unterkriegen lassen.
Essen ist (nicht) alles
Damit ihre Tochter die Diät durchhält, ist es für Gielesberger wichtig, ihr nicht nur Verzicht, sondern vor allem auch Zuversicht beizubringen: „Diese Kinder lernen früh, Verantwortung zu übernehmen. Umso wichtiger ist es, einen positiven Zugang zu finden.“
Grundsätzlich kann der Körper das lebenswichtige Phenylalanin nicht selbst herstellen, es wird über die Nahrung aufgenommen. Für gesunde Menschen einfach: Die Aminosäure ist in fast jedem Lebensmittel enthalten. Und hier fängt wiederum das Problem für PKU-Betroffene an: Sie können nur eine gewisse Menge an Phenylalanin über die Nahrung aufnehmen – so viel, wie ihr Körper verarbeiten kann. Ein Zuviel, aber auch ein Zuwenig ist schädlich. Familien wie die Gielesbergers berechnen daher den Phenylalanin-Gehalt jedes Nahrungsmittels, setzen sich mit Nährwerttabellen und eiweißarmen (Ersatz-)Produkten auseinander.
Unsere Nahrung setzt sich aus drei Hauptbestandteilen zusammen: Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate. Alle drei sind essenziell für die Entwicklung und Gesunderhaltung von Geist und Körper. Im Zusammenhang mit einer Phenylketonurie (PKU) muss man wissen, dass sich tierisches wie pflanzliches Eiweiß aus Aminosäuren zusammensetzt. Eine davon ist Phenylalanin.
Im Normalfall wird es über die Nahrung aufgenommen, gelangt durch die Darmwand ins Blut und wird im Körper verteilt. Phenylalanin bildet hier auch die Vorstufe vieler Hormone, die verschiedene lebenswichtige Funktionen im Körper regulieren. Besteht ein Überschuss an Phenylalanin, wird es abgebaut und über die Nieren ausgeschieden.
Ist man von einer PKU betroffen, kann der Körper Phenylalanin nicht oder schlecht weiterverarbeiten. Stattdessen sammelt es sich im Blut an. Ist die Konzentration zu hoch, drohen Schäden: allen voran starker geistiger Entwicklungsrückstand, Epilepsie, motorische Behinderungen, ekzemartige Hautveränderungen oder Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität und Hyperaktivität.
Die Ausprägung ist individuell unterschiedlich, je nachdem, wie stark die Weiterverarbeitung und der Abbau des Phenylalanin im Körper gestört sind.
„Denkt man nur daran, was alles nicht gegessen werden darf, wird es schwierig“, so die ÖGAST-Obfrau. „Auch darf der Fokus auf das Essen nicht Überhand nehmen.“ Manche Familien würden zum Beispiel ihr PKU-Kind alleine essen lassen. Es soll nicht sehen, was Eltern oder die gesunden Geschwister zu sich nehmen. „Spätestens in der Schule, wenn die anderen Schüler ihre Jausenbox öffnen, wird das zum Problem."
Aus Solidarität zur Tochter wollten auch die Gielesbergers am Anfang als ganze Familie auf eine eiweißarme Ernährung umsteigen. Die Mutter stellte allerdings schnell fest, wie realitätsfremd und sogar kontraproduktiv das war: "Betroffene Kinder müssen lernen, dass andere keine Diät halten, und dürfen sich davon nicht beeinflussen lassen - ob in der Schule, am Wandertag oder bei den Geburtstagsfeiern der Freunde.“
Die Herausforderung ist immer noch groß, der Trend zur veganen Küche, das wachsende Nahrungsmittelangebot bei Unverträglichkeiten sowie die Möglichkeit Lebensmittel online zu bestellen, haben es aber etwas erleichtert, Diät zu halten. Diese basiert auf einer eiweißarmen Kost und industriell gefertigten Spezialprodukten, die die fehlende Nährstoffe ersetzen.
Lebensmittel mit hohem Eiweißgehalt wie Milch, Eier, Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, herkömmliches Brot und Teigwaren, Hülsenfrüchte, Mais oder Nüsse dürfen gar nicht gegessen werden. Auch das Süßungsmittel Aspartam steht auf der No-Go-Liste, da es zu 50 Prozent aus Phenylalanin besteht.
Bei Lebensmitteln, die wenig Eiweiß enthalten, wird der Phenylalanin-Gehalt anhand spezieller Tabellen genau berechnet. Eingeschränkt erlaubt sind damit zum Beispiel Kartoffeln und Reis, eiweißarmes Gebäck und Teigwaren oder reine Fruchtsäfte.
Kein Problem stellen eiweißfreie Lebensmittel dar. Darunter fallen viele Obst- und manche Gemüsesorten, aber auch Butter und Margarine oder auch viele Süßwaren.
Als besonders sensibel gelten die ersten zehn Lebensjahre, da sich das Gehirn in der Entwicklung befindet. Die Diät muss aber trotzdem lebenslang eingehalten werden, da sich sonst Gehirnaktivität, Denkleistung und Reaktionsfähigkeit verschlechtern.
Mit dem Kind zu reden, sei das Um und Auf. „Es ist wichtig, dass meine Tochter es nicht verheimlicht, wenn sie doch einmal etwas gegessen hat, was sie nicht hätte dürfen." Dann könne das noch in den Tageskonsum miteingerechnet werden. Kompliziert werde es hingegen, wenn das Kind schweigt: "Wir sind hier als Eltern gefordert, eine gute Kommunikation aufrechtzuerhalten und zu pflegen."
Ein Unterfangen, das manchmal leichter und manchmal schwieriger zu bewerkstelligen ist. So werden zum Beispiel die Jahre der Pubertät, in der Teenager ganz allgemein den Abstand zu den Eltern suchen, einen Einfluss auf die bestehende Gesprächsbasis nehmen.
"Das Rebellieren gegen die Eltern macht ja jeder durch und ein Kind wird bei genau der Sache provozieren, von der es weiß, dass sie Vater und Mutter ganz besonders am Herzen liegt. Hat ein Kind mit PKU bis dahin nicht verinnerlicht, wie wichtig Diäthalten ist, ist das Risiko hoch, dass es sich genau dagegen auflehnt - mit mitunter schwerwiegenden Folgen."
Durch das Neugeborenen-Screening kann eine PKU heute frühzeitig erkannt werden. Liegt eine vor, bekommt der Säugling zunächst eine phenylalaninfreie Flaschennahrung, bis die Blutwerte wieder unter die erforderliche Grenze sinken.
Anschließend wird abgeklärt, wie viel Muttermilch das Baby zusätzlich bekommen darf und wie die Ernährung im weiteren Verlauf aussehen muss.
Bei Einhaltung der individuell unterschiedlich abgestimmten Diät steht einer normalen Entwicklung nichts im Wege.
Das Wissen, wie andere Betroffene mit der Diagnose umgehen, kann da Mut machen und den eigenen Familienalltag erleichtern. Als die Diagnose gestellt wurde, wurde Katja Gielesberger von den Ärzten und Spezialisten mit vielen Informationen versorgt. Im Alltag zeigte sich aber schnell, wie sehr sich die Theorie von der Praxis unterschied.
Wie viele andere Eltern haderte sie mit der Frage, ob sie im Umgang mit der PKU alles richtig machte und wie die Zukunft ihres Kindes wohl aussehen würde: "Uns hat da der Austausch mit Familien, die schon ältere, auch schon erwachsene Kinder haben, sehr geholfen." Allein schon aufgrund der Vorbildwirkung: "Man sieht, wie gut sich die PKU kontrollieren lässt und dass diesen Kindern im Leben dieselben Möglichkeiten offenstehen wie anderen. Sie waren ebenso in der Schule, haben studiert, gehen ihrem Beruf nach, führen ihr Leben."
Genuss finden
Da PKU-Betroffene schon früh viel Eigenverantwortung übernehmen müssen, versucht die ÖGAST diese durch Sommercamps zu motivieren. Dort lernen Kinder, welche Lebensmittel verträglich sind und um welche sie einen Bogen machen sollten. Sie lernen wie der Phenylalanin-Gehalt berechnet wird und können auch ihre Kochkünste selbst ausprobieren. "Was die Ernährung betrifft, verlieren Kinder mit PKU schon in sehr jungen Jahren dieses Ungezwungene, Unbeschwerte", so Gielesberger. Der Genussfaktor bleibt dabei schnell auf der Strecke.
Im Camp geht es daher auch darum, gemeinsam Rezepte nachzukochen, die schmecken und "normalen" Gerichten in Nichts nachstehen. So steckt im Kohlrabi-Schnitzel mit seinen feinen Aromen ein ebenso großes kulinarisches Potenzial wie bei der üblichen Fleisch-Variante. "Der Zugang 'Das arme Kind darf ja gar nichts essen' ist für mich der falsche. Anstatt aufzuzeigen, was alles nicht geht, versuchen wir in den Camps und in den Beratungen aufzeigen, dass es viele Alternativen gibt.“
Mehr Infos zum Selbsthilfeverein ÖGAST: www.oegast.at
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